Die Welt von Gestern
Dreyfus' beigewohnt, hatte gesehen, wie man dem bleichen Mann die Epauletten abriß, während er laut ausrief: »Ich bin unschuldig.« Und er hatte bis ins innerste Herz gewußt in dieser Sekunde, daß Dreyfus unschuldig war und daß er diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen dadurch, daß er Jude war. Nun hatte Theodor Herzl in seinem aufrechten männlichen Stolz schon als Student unter dem jüdischen Schicksal gelitten – vielmehr, er hatte es in seiner ganzen Tragik schon vorausgelitten zu einer Zeit, da es kaum ein ernstliches Schicksal zu sein schien, dank seines prophetischen Instinkts der Ahnung. Mit dem Gefühl, zum Führer geboren zu sein, wozu ihn seine prachtvoll imposante äußere Erscheinung nicht minder als die Großzügigkeit seines Denkens und seine Weltkenntnis berechtigte, hatte er damals den phantastischen Plan gefaßt, dem jüdischen Problem ein für allemal ein Ende zu bereiten, und zwar durch Vereinigung des Judentums mit dem Christentum auf dem Wege freiwilliger Massentaufe. Immer dramatisch denkend, hatte er sich ausgemalt, wie er in langem Zuge die Tausende und Abertausende der Juden Österreichs zur Stefanskirche führen würde, um dort in einem vorbildlich symbolischen Akt das gejagte, heimatlose Volk für immer vom Fluch der Absonderung und des Hasses zu erlösen. Bald hatte er das Unausführbare dieses Plans erkannt, Jahre eigener Arbeit hatten ihn vom Urproblem seines Lebens, das zu ›lösen‹ er als seine wahre Aufgabe erkannte, abgelenkt; jetzt aber, in dieser Sekunde der Degradierung Dreyfus', fuhr der Gedanke der ewigen Ächtung seines Volkes wie ein Dolch ihm in die Brust. Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine vollkommene! Wenn Erniedrigung unser Schicksal immer wieder wird, dann ihm be
gegnen durch Stolz. Wenn wir leiden an unserer Heimatlosigkeit, dann eine Heimat uns selbst aufbauen! So veröffentlichte er seine Broschüre ›Der Judenstaat‹, in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina.
Ich saß, als diese knappe, aber mit der Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens versehene Broschüre erschien, noch im Gymnasium, kann mich aber der allgemeinen Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-jüdischen Kreise wohl erinnern. Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere Sprache ist deutsch und nicht hebräisch, unsere Heimat das schöne Österreich. Geht es uns nicht vortrefflich unter dem guten Kaiser Franz Joseph? Haben wir nicht unser anständiges Fortkommen, unsere gesicherte Stellung? Sind wir nicht gleichberechtigte Staatsangehörige, nicht eingesessene und treue Bürger dieses geliebten Wien? Und leben wir nicht in einer fortschrittlichen Zeit, welche alle konfessionellen Vorurteile in ein paar Jahrzehnten beseitigen wird? Warum gibt er, der doch als Jude spricht und dem Judentum helfen will, unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand und versucht uns zu sondern, da doch jeder Tag uns näher und inniger der deutschen Welt verbindet? Die Rabbiner ereiferten sich von den Kanzeln, der Leiter der ›Neuen Freien Presse‹ verbot, das Wort Zionismus in seiner ›fortschrittlichen‹ Zeitung auch nur zu erwähnen. Der Thersites der Wiener Literatur, der Meister des giftigen Spotts, Karl Kraus, schrieb eine Broschüre ›Eine Krone für Zion‹, und wenn Theodor Herzl das Theater betrat, murmelte man spöttelnd durch alle Reihen: »Seine Majestät ist erschienen!«
Im ersten Augenblick konnte Herzl sich mißverstanden fühlen; Wien, wo er sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten vermeinte, verließ und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte die Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, daß er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen. Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden, wohlsituierten bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den riesigen Massen des Ostens, von dem galizischen, dem polnischen, dem russischen Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht,
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