Die Welt von Gestern
härter werdenden – Kampf gegolten, innerlich ebenso frei zu bleiben.
PARIS, DIE STADT DER EWIGEN JUGEND
Für das erste Jahr der eroberten Freiheit hatte ich mir Paris als Geschenk versprochen. Ich kannte diese unerschöpfliche Stadt nur flüchtig von zwei früheren Besuchen und wußte, daß, wer als junger Mensch ein Jahr dort gelebt, eine unvergleichliche Glückserinnerung durch sein ganzes Leben mitträgt. Nirgends empfand man mit aufgeweckten Sinnen sein Jungsein so identisch mit der Atmosphäre wie in dieser Stadt, die sich jedem gibt und die keiner doch ganz ergründet.
Ich weiß es wohl, dieses selig beschwingte und beschwingende Paris meiner Jugend ist nicht mehr; vielleicht wird ihm niemals mehr jene wunderbare Unbefangenheit zurückgegeben werden, seit die härteste Hand der Erde ihm das eherne Brandmal herrisch aufgedrückt. In der Stunde, da ich diese Zeilen zu schreiben begann, wälzten sich gerade die deutschen Armeen, die deutschen Tanks wie eine graue Termitenmasse heran, um das göttlich Farbige, das selig Heitere, den Schmelz und die unverwelkbare Blüte dieses harmonischen Gebildes an der Wurzel zu zerstören. Und nun ist es geschehen: die Hakenkreuzfahne weht vom Eiffelturm, die schwarzen Sturmtruppen paradieren herausfordernd über Napoleons Champs Elysées, und ich fühle von weitem mit, wie in den Häusern die Herzen sich krampfen, wie gedemütigt die einst so gutmütigen Bürger blicken, wenn durch ihre traulichen Bistros und Cafés die Stulpenstiefel der Eroberer stapfen. Kaum je ein eigenes Unglück hat mich so betroffen, so erschüttert, so verzweifelt gemacht wie die Erniedrigung dieser Stadt, die wie keine begnadet gewesen, jeden, der ihr nahte, glücklich zu machen. Wird sie noch einmal wieder Generationen zu geben vermögen, was sie uns
gegeben: die weiseste Lehre, das wundervollste Beispiel, gleichzeitig frei und schöpferisch zu sein, jedem aufgetan und nur immer reicher werdend an dieser schönen Verschwendung?
Ich weiß, ich weiß, es ist nicht Paris allein, das heute leidet; auch das andere Europa wird für Jahrzehnte nicht mehr sein, was es vor dem Ersten Weltkrieg gewesen. Eine gewisse Düsternis hat sich seitdem auf dem einstmals so hellen Horizont Europas nie mehr völlig verflüchtigt, Bitternis und Mißtrauen von Land zu Land, vom Menschen zum Menschen ist wie ein zehrendes Gift im verstümmelten Leib verblieben. Soviel Fortschritt im Sozialen, im Technischen dies Vierteljahrhundert zwischen Weltkrieg und Weltkrieg gebracht, so gibt es doch im einzelnen keine Nation in unserer kleinen Welt des Abendlandes, die nicht unermeßlich viel ihrer einstigen Lebenslust und Unbefangenheit verloren hätte. Man müßte tagelang schildern, wie zutraulich, wie kindisch heiter früher selbst in bitterster Armut die italienischen Menschen gewesen, wie sie lachten und sangen in ihren Trattorien und witzig spotteten über das schlimme ›governo‹, indes sie jetzt düster marschieren müssen mit emporgestoßenem Kinn und verdrossenem Herzen. Kann man sich noch einen Österreicher denken, so lax und locker in seiner Gutmütigkeit, so fromm-gläubig seinem kaiserlichen Herrn vertrauend und dem Gott, der das Leben ihnen so behaglich gemacht? Die Russen, die Deutschen, die Spanier, sie alle, sie alle wissen nicht mehr, wieviel an Freiheit und Freude der herzlos gefräßige Popanz des ›Staates‹ ihnen aus dem Mark der innersten Seele gesogen. Alle Völker fühlen nur, daß ein fremder Schatten breit und schwer über ihrem Leben hängt. Wir aber, die wir noch die Welt der individuellen Freiheit gekannt, wir wissen und können es bezeugen, daß Europa sich einstmals sorglos freute seines kaleidoskopischen Farbenspiels. Und wir erschauern, wie verschattet, verdunkelt, versklavt und
verkerkert unsere Welt dank ihrer selbstmörderischen Wut geworden ist.
Aber doch, nirgends und nirgends hat man die naive und zugleich wunderbar weise Unbekümmertheit des Daseins beglückter empfinden können als in Paris, wo sie durch Schönheit der Formen, durch Milde des Klimas, durch Reichtum und Tradition glorreich bestätigt war. Jeder von uns jungen Menschen nahm ein Teil dieser Leichtigkeit in sich auf und tat dadurch sein eigenes Teil hinzu; Chinesen und Skandinavier, Spanier und Griechen, Brasilianer und Kanadier, jeder fühlte sich an der Seine zu Hause. Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen, wie man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein,
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