Die Welt von Gestern
man konnte bei einem Bouquinisten eintreten und eine Viertelstunde in den Büchern blättern, ohne daß der Händler knurrte und murrte. Man konnte in die kleinen Galerien gehen und in den Bric-à-Brac-Geschäften alles umständlich gustieren, konnte im Hotel Drouot bei den Versteigerungen schmarotzen und in den Gärten mit den Gouvernanten plaudern; es war nicht leicht, innezuhalten, wenn man einmal ins Bummeln gekommen war, die Straße zog einen magnetisch mit und zeigte kaleidoskopisch unablässig etwas Neues. War man müde, so konnte man auf der Terras
se eines der zehntausend Kaffeehäuser sitzen und Briefe schreiben auf dem unentgeltlich gegebenen Briefpapier und dabei von den Straßenverkäufern sich ihren ganzen Kram von Narrheit und Überflüssigkeit explizieren lassen. Schwer war nur eines: zu Hause zu bleiben oder nach Hause zu gehen, besonders, wenn der Frühling ausbrach, das Licht silbern und weich über der Seine glänzte, die Bäume auf den Boulevards sich grün zu buschen begannen und die jungen Mädchen jedes ihr Veilchensträußchen für einen Sou angesteckt trugen; aber es mußte wahrhaftig nicht gerade Frühling sein, damit man in Paris guter Laune war.
Die Stadt war zur Zeit, da ich sie kennenlernte, noch nicht so völlig zu einer Einheit zusammengeschmolzen wie heute dank der Untergrundbahnen und Automobile; noch regierten hauptsächlich die mächtigen, von schweren, dampfenden Pferden gezogenen Omnibusse den Verkehr. Allerdings, bequemer war Paris kaum zu entdecken als vom ›Imperial‹, vom ersten Stock dieser breiten Karossen oder aus den offenen Droschken, die ebenfalls nicht allzu hitzig fuhren. Aber von Montmartre nach Montparnasse war es damals immerhin noch eine kleine Reise, und ich hielt im Hinblick auf die Sparsamkeit der Pariser Kleinbürger die Legende durchaus für glaubhaft, daß es noch Pariser der rive droite gebe, die nie auf der rive gauche gewesen seien, und Kinder, die einzig im Luxembourg-Garten gespielt und nie den Tuileriengarten oder Parc Monceau gesehen. Der richtige Bürger oder Concierge blieb gerne chez soi, in seinem Quartier; er schuf sich innerhalb von Großparis sein kleines Paris, und jedes dieser Arrondissements trug darum noch seinen deutlichen und sogar provinzartigen Charakter. So bedeutete es für einen Fremden einen gewissen Entschluß, zu wählen, wo er seine Zelte aufschlagen sollte. Das Quartier Latin lockte mich nicht mehr. Dorthin war ich bei einem frü
heren kurzen Besuch als Zwanzigjähriger gleich von der Bahn aus gestürzt; am ersten Abend schon hatte ich im Café Vachette gesessen und mir ehrfürchtig den Platz Verlaines zeigen lassen und den Marmortisch, auf den er in der Trunkenheit immer mit seinem schweren Stock zornig hieb, um sich Respekt zu verschaffen. Ihm zu Ehren hatte ich unalkoholischer Akoluth ein Glas Absinth getrunken, obwohl dies grünliche Gebräu mir gar nicht mundete, aber ich glaubte als junger, ehrfürchtiger Mensch mich verpflichtet, im Quartier Latin mich an das Ritual der lyrischen Dichter Frankreichs halten zu müssen; am liebsten hätte ich damals aus Stilgefühl im fünften Stock in einer Mansarde bei der Sorbonne gewohnt, um die ›richtige‹ Quartier-Latin-Stimmung, wie ich sie aus den Büchern kannte, getreulicher mitleben zu können. Mit fünfundzwanzig Jahren dagegen empfand ich nicht mehr so naiv romantisch, das Studentenviertel schien mir zu international, zu unpariserisch. Und vor allem wollte ich mir mein dauerndes Quartier schon nicht mehr nach literarischen Reminiszenzen wählen, sondern um möglichst gut meine eigene Arbeit zu tun. Ich blickte mich sogleich um. Das elegante Paris, die Champs Elysées, boten in diesem Sinne nicht die geringste Eignung, noch weniger das Quartier um das Café de la Paix, wo alle reichen Fremden des Balkans sich Rendezvous gaben und außer den Kellnern niemand französisch sprach. Eher hatte die stille, von Kirchen und Klöstern umschattete Sphäre von Saint Sulpice, wo auch Rilke und Suarez gerne wohnten, für mich Reiz; am liebsten hätte ich auf der Ile St. Louis Hausung genommen, um gleicherweise beiden Seiten von Paris, der rive droite und rive gauche, verbunden zu sein. Aber im Spazierengehen gelang es mir, gleich in der ersten Woche etwas noch Schöneres zu finden. Durch die Galerien des Palais schlendernd, entdeckte ich, daß unter den im achtzehnten Jahrhundert von Prince Egalité eben
mäßig gebauten Häusern dieses riesigen Carrés ein einziges einstmals
Weitere Kostenlose Bücher