Die Welt von Gestern
vornehmes Palais zu einem kleinen, etwas primitiven Hotel herabgekommen war. Ich ließ mir eines der Zimmer zeigen und merkte entzückt, daß der Blick vom Fenster in den Garten des Palais Royal hinausging, der mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde. Nur das leise Brausen der Stadt hörte man dann undeutlich und rhythmisch wie einen ruhelosen Wogenschlag an eine ferne Küste, im Mondlicht leuchteten die Statuen, und in den ersten Morgenstunden trug manchmal der Wind von den nahen ›Halles‹ einen würzigen Duft von Gemüse her. In diesem historischen Geviert des Palais Royal hatten die Dichter, die Staatsmänner des achtzehnten, des neunzehnten Jahrhunderts gewohnt, quer gegenüber war das Haus, wo Balzac und Victor Hugo so oft die hundert engen Stufen bis zur Mansarde der von mir so geliebten Dichterin Marceline Desbordes-Valmore emporgestiegen waren, dort leuchtete marmorn die Stelle, wo Camille Desmoulins das Volk zum Sturm auf die Bastille aufgerufen, dort war der gedeckte Gang, wo der arme kleine Leutnant Bonaparte sich unter den promenierenden, nicht sehr tugendhaften Damen eine Gönnerin gesucht. Die Geschichte Frankreichs sprach hier aus jedem Stein; außerdem lag nur eine Straße weit die Nationalbibliothek, wo ich meine Vormittage verbrachte, und nahe auch das Louvremuseum mit seinen Bildern, die Boulevards mit ihrem menschlichen Geström; ich war endlich dort, wohin ich mich gewünscht, dort, wo seit Jahrhunderten heiß und rhythmisch der Herzschlag Frankreichs ging, im innersten Paris. Ich erinnere mich, wie André Gide mich einmal besuchte und, über diese Stille mitten im Herzen von Paris staunend, sagte: »Von den Ausländern müssen wir die schönsten Stellen unserer eigenen Stadt uns zeigen lassen.« Und wirklich, ich hätte nichts Pariserischeres und zugleich Abgeschiedeneres finden können als
dieses romantische Studierzimmer im innersten Bannkreis der lebendigsten Stadt der Welt.
Was streifte ich damals durch die Straßen, wieviel sah, wieviel suchte ich in meiner Ungeduld! Denn ich wollte doch nicht nur das eine Paris von 1904 erleben; ich suchte mit den Sinnen, mit dem Herzen auch das Paris von Henri IV . und Louis XIV . und das Napoleons und der Revolution, das Paris Rétif de la Bretonnes und Balzacs, Zolas und Charles Louis Philippes mit all seinen Straßen, Gestalten und Geschehnissen. Überzeugend empfand ich hier wie immer in Frankreich, wieviel eine große und dem Wahrhaften zugewandte Literatur ihrem Volke an verewigender Kraft zurückgibt, denn alles in Paris war mir eigentlich durch die darstellende Kunst der Dichter, der Romanciers, der Historiker, der Sittenschilderer geistig im voraus vertraut gewesen, ehe ich es mit eigenen Augen gesehen. Es verlebendigte sich nur in der Begegnung, das physische Schauen wurde eigentlich Wiedererkennen, jene Lust der griechischen ›Anagnosis‹, die Aristoteles als die größte und geheimnisvollste alles künstlerischen Genießens rühmt. Aber doch: in seinem Letzten, seinem Verborgensten erkennt man ein Volk oder eine Stadt nie durch Bücher und selbst nicht durch fleißigstes Flanieren, sondern immer nur durch seine besten Menschen. Einzig aus geistiger Freundschaft mit den Lebenden gewinnt man Einblick in die wirklichen Zusammenhänge zwischen Volk und Land; alles Beobachten von außen bleibt ein unechtes und voreiliges Bild.
Solche Freundschaften waren mir gegeben und die beste mit Léon Bazalgette. Dank meiner engen Beziehung zu Verhaeren, den ich jede Woche zweimal in St. Cloud besuchte, war ich davor behütet worden, wie die meisten Ausländer in den windigen Kreis der internationalen Maler und Literaten zu geraten,
die das Café du Dôme bevölkerten und im Grunde dieselben blieben hier oder dort, in München, Rom und Berlin. Mit Verhaeren dagegen ging ich zu den Malern, den Dichtern, die inmitten dieser schwelgerischen und temperamentvollen Stadt jeder in seiner schöpferischen Stille wie auf einer einsamen Insel der Arbeit lebten, ich sah noch das Atelier Renoirs und die besten seiner Schüler. Äußerlich war die Existenz dieser Impressionisten, deren Werke man heute mit Zehntausenden von Dollars bezahlt, in nichts unterschieden von der des Kleinbürgers und Rentners; irgendein kleines Häuschen mit einem angebauten Atelier, keine ›Aufmachung‹, wie sie in München Lenbach und die anderen Berühmtheiten mit ihren imitiert pompejanischen Luxusvillen zur Schau trugen. Ebenso einfach wie die Maler lebten die Dichter, mit
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