Die Weltenwanderer
kratzig, aber freundlich.
Erik wandte den Kopf und sah einen alten, ewig langen, dürren Kerl, dessen weißer Haarkranz ein ausgemergeltes Gesicht mit Bartstoppeln umrahmte. Der schwarze Anzug über gelbbraun karierten Hausschuhen war zerknittert, das weiße Hemd bis oben hin zugeknöpft: ein Totengräber in Puschen!
»Kann Möbius etwas für dich tun? Bist du hungrig?«
Sein Hirn schien wie verstopft. »Ich bin noch nicht ganz wach«, krächzte er und sah sich um.
Es war ein hübscher Raum, der allerdings unbewohnt wirkte. Der Glasschreibtisch beherbergte ein Laptop, sonst nichts; im Stahlrohrregal stand lediglich ein Fernseher. Auch auf dem Tisch zwischen Ledercouch und Sesseln lag nichts. Kein Bild oder Poster zierte die weiß verputzten Wände.
»Wo bin ich?«, fragte er.
Der Hagere setzte sich vorsichtig auf den Schreibtischstuhl und erklärte: »Ein Stuhl mit Rollen. Weiß nicht, wozu Stühle Rollen haben. Wenn ich mich setze, will ich doch nirgendwo mehr hin. Aber der hier hat seltsamerweise welche. Bin eben schon an die Wand gerollert. Sei vorsichtig, wenn du ihn mal benutzt! Du bist nun gewarnt. Denk immer dran: Der rollert weg, wenn du nicht dagegen hältst.«
Sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an. Seine Brauen zogen sich zusammen und seine Stirn runzelte sich, dann nickte er. »Jetzt erinnere ich mich wieder an deine Frage. Wo du bist? Im Herrenhaus! Hast du Hunger?«
Hunger hatte er nicht, aber er hätte schwören können, dass das Hirn seines Gegenübers auch nicht einwandfrei arbeitete. »Nein, ich möchte nichts essen. In welchem Herrenhaus bin ich und wie komm ich hierher?«
»Im Herrenhaus von Waldsee und du bist zu Fuß gekommen. Nach dem Unfall hat Möbius dich getragen. War aber nur die Auffahrt und die Treppe.«
»Unfall?« Erik wurde immer verwirrter. Zumindest fühlte er sich körperlich stark genug, um sich aufzusetzen. Dabei fiel ihm der rotgold gestreifte, seidene Schlafanzug auf, den er trug. Ein solches Teil gehörte definitiv nicht zu seiner eigenen Garderobe.
Sein Gegenüber musste seine Gedanken erraten haben und kicherte. »Ein Weihnachtsgeschenk von Frau Meise an den Ringlord. Noch unbenutzt, dabei ist bald wieder Weihnachten. Ich werde dir einen passenderen besorgen, wenn du keinen im Koffer hast.« Er rubbelte mit knöcherner Hand seine Stirn. »Hast du überhaupt einen Koffer?«
Bevor Erik etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür. Ein junger Mann in Jeans und Rollkragenpullover mit schwarzem Haar, das wirr bis auf die Schultern fiel, Dreitagebart und strahlendblauen Augen betrat den Raum und lächelte ihn an. »Oh, du bist schon wach?«
Erneut konnte Erik nichts sagen, denn der Alte sprang so schnell hoch, dass der Stuhl gegen die Wand rollte, und erklärte: »Möbius war die ganze Zeit bei ihm und hat ihn auch gefragt. Er wollte nichts essen, ist noch nicht ganz beieinander. Vor dem gefährlichen Stuhl ist er auch gewarnt. Jetzt, da Ihr hier seid, kann Möbius gehen: erst zur Toilette dann zu Frau Meise. Die kocht, was dem Jungen gut tut. Ein guter Plan?«
»Ein hervorragender Plan«, bestätigte der Neuankömmling ernst, und der Pförtner wieselte nach kurzem Abschiedsgruß aus dem Zimmer.
Jetzt zog van Rhyn die Stirn kraus. »Wir haben gefährliche Stühle?«
»Ja, welche, die rollern, wenn man nicht dagegen hält.« Erik kicherte unwillkürlich. Der Besucher sah so normal aus, dass er sich gleich wohler fühlte.
Aeneas stieß ein dunkles Lachen aus, bevor er erklärte: »Möbius ist als Kind aus dem vierten Stock gefallen. Er ist etwas seltsam, aber eine gute Seele.« Er trat näher und streckte Erik die Hand hin. »Aeneas van Rhyn!«
Der erwiderte den festen Händedruck. »Erik Haiden!«
Van Rhyn setzte sich in einen Sessel, streckte die Beine aus und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Entschuldige! Hab lange keinen Schlaf gehabt. Willkommen in Waldsee! Ich freu mich immer, einen neuen Bürger in der Stadt begrüßen zu können. Hast dir allerdings eine seltsame Zeit für deinen Besuch ausgesucht: so in aller Frühe.« Er blinzelte Erik an
»Ich wollte Sie auch gar nicht besuchen«, gab der zurück. »Herr Möbius sprach davon, dass ich einen Unfall hatte. Ich kann mich nicht daran erinnern. Wissen Sie etwas davon?«
»Allerdings! Du bist mir vors Auto getrudelt. Konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich vermutet, dass du unter Drogen standest. Dann erzähl mal, woher du kommst und was dich zu
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