Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
entstanden, die heute
beim Schreiben meine Finger bewegen. Und wir verdanken uns der Evolutionskette, die auf unserem Planeten bis zum Menschen
führte. Ein verschränktes Geschehen von Zufall und Gesetzmäßigkeiten. Von Mozart bis Madonna.
Dafür, dass ich da bin, mein Leben bis heute erhalte, weiß ich nicht nur meiner Mutter Dank, sondern ungezählten Menschen,
Lebewesen, auch der |9| Mutter Erde, ihren Früchten, ihren Tieren, ihrer sauerstoffhaltigen Luft, ohne die wir nicht atmen können. Ich verdanke mich
Menschen, deren Leben in meinem Leben Spuren hinterließen, der Musik, die ich hörte, den Büchern, die ich las. Nicht zu vergessen
Kitti, unsere Katzenmamsell! Wo soll ich aufhören? Genauer gefragt, wo fange ich an? Ich weiß es nicht, aber schließlich bin
ich doch da, einmalig, unverwechselbar.
Nie wieder wird es mich in den Milliarden Jahren der Zukunft noch einmal geben, wenigstens nicht genauso. Jede und jeder von
uns ist einzigartig. Und auch darin verdanken wir uns. Wem? Oder was? Warum ist das große Los in der Gen-Lotterie ausgerechnet
auf mich gefallen? Mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu mehreren Trillionen. Mich dürfte es gar nicht geben, rein statistisch
gesehen. Trotzdem bin ich da. Unser Dasein beruht auf einem riesengroßen Zufall. Und die Religion verspricht, aus unserem
Zufallsdasein einen Glücksfall zu machen, dem Zufall einen Sinn zu geben.
Das ist der gemeinsame Nenner der Philosophie von Laotse, Buddha, Moses, Jesus und Muhammad. Religion funktioniert wie eine
Rückversicherung gegen das brutale Faktum des Zufalls. Die Frage nach dem Woher und Wohin werden sich vermutlich alle Menschen
irgendwann einmal stellen. Und wahrscheinlich auch die Lebewesen von anderen Planeten irgendwo in der Galaxis. Falls es sie
gibt, und falls die Außerirdischen wie wir die Zeit erfahren, nämlich als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Solche spekulativen
Fragen möchte ich hier aber lieber nicht diskutieren.
Religion als die Bewältigung des Zufalls. Das klingt fast wie eine Umschreibung der Kritik von Sigmund Freud: »Der letzte
Grund der Religion ist die infantile Hilflosigkeit des Menschen.« Ähnlich sah es Karl Marx, der aber auf die soziale Funktion
der Religion abhob. Für ihn war sie ein Beruhigungsmittel, das »Opium des Volks«. Diese Funktion hat die Religion verloren.
Heute benutzen wir als »Opium« Risikosport, Fitnesstraining, Rock- und Popmusik, Internetsurfen, Actionspiele, Erlebnisurlaub,
eben alles, was einen aus dem Alltag herauskatapultiert, greifen vielleicht sogar zu richtigen Drogen, Ecstasy oder Alkohol.
Hinein in die große Spaßgesellschaft, und die geht über Leichen. Daran würde Marx am Anfang unseres Jahrtausends die Kritik
der ökonomischen Verhältnisse festmachen. Nicht mehr an der Religion.
Karl Marx entstammte einer alten jüdischen Familie, und unter seinen Vorfahren befanden sich mehrere Rabbiner, Schriftgelehrte,
die Recht sprachen, Trauungen und Scheidungen vollzogen und die ihre Gemeinden nach außen vertraten. Der Religionskritiker
kannte sich also in Sachen Religion gut aus. |10| Und er sprach ihr nicht rundweg jede Existenzberechtigung ab. In ihr vernahm er den »Seufzer der bedrängten Kreatur«, sah
in ihr den ohnmächtigen Protest gegen die gesellschaftlichen Missstände, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes,
ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Religionskritik des Österreichers Sigmund Freud, der Anfang des 20. Jahrhunderts die
Psychoanalyse begründete. In jeder Religion, befand Freud, steckt eine Portion Trotz, »versteckter Sohnestrotz« gegen einen
übermächtigen Vater. Ich stimme zu. Religion ist mehr als ein Kuschelgefühl, mehr als liebes Eiapopeia. Alle großen Religionen
begannen irgendwann als Protestbewegungen, alle Religionsgründer waren |11| zugleich Religionskritiker und mussten sich gegen zahllose Widerstände durchsetzen.
Moses, Buddha, Laotse, Jesus, Muhammad: Ihre Religion verspricht, dem Zufall einen Sinn zu geben.
|11| Laotse, der chinesische Weise, verließ seine angestammte Heimat: »Denn die Güte im Land war wieder einmal schwächlich, und
die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.« So beschreibt Bert Brecht, der Poet, den legendären Auszug Laotses in seiner
Ballade »Von der Entstehung des Buches Taoteking«. Buddha, eventuell des chinesischen Weisen Zeitgenosse, war das Ziel
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