Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
mitmischen, handeln wir nach der Tao-Art. Denn auch das Tao wirkt lautlos, allein durch seine universelle
Gegenwart in den Dingen. »Drei Besitztümer bewahre ich, die währen. Als Erstes nenne ich die Liebesfähigkeit, als Zweites
die Einfachheit, als Drittes die Bescheidenheit: liebesfähig, bin ich zu allem fähig, einfach, kann ich verschwenderisch sein,
bescheiden, wird mir alles zuteil«, heißt es im Tao Te King. Laotse glaubte daran, dass die Menschheit zu ihrer »natürlichen
Unversehrtheit« zurückfinden könne. Vielleicht ist das unmöglich. Aber jeder kann es versuchen und einen Anfang machen.
In unserer heutigen Welt ist das Gleichgewicht der Dinge ständig bedroht. Statt mit dem Tao und in Harmonie mit der Natur
zu leben, versucht der Mensch, sie zu überlisten. Dies ist das Thema einer weiteren Geschichte von Tschuangtse:
»Tsekung reiste einmal nach Thschu und kam auf dem Rückweg nach Tschin durch Hanyin. Dort sah er einen Bauern, der seinen
Gemüsegarten bearbeitete. Er ließ einen Eimer in den Brunnen hinab, zog ihn wieder herauf, ergriff ihn mit der Hand, ging
umher und begoss seine Pflanzen. Das alles kostete viel Arbeit und brachte nur wenig Erfolg. ›Ich weiß von einer Maschine,
die in einem Tag |21| hundert Felder bewässert, Arbeit spart und gute Ergebnisse erzielt. Möchtet Ihr nicht so eine Maschine haben?‹, sagte Tsekung.
Der Gärtner sah auf und fragte: ›Wie sieht sie aus?‹ ›Es ist ein hölzernes Gerät, dessen Hebel hinten schwer und vorne leicht
ist. Es zieht das Wasser auf, das dann in einen Graben strömt. Die Maschine wird Schwingbaum genannt!‹, sagte Tsekung. Das
Gesicht des Gärtners veränderte plötzlich seinen Ausdruck, und er lachte: ›Ich hörte von meinem Meister, dass wer listige
Geräte besitzt, auch in seinen Geschäften listig ist und, wer listig in seinen Geschäften ist, auch List im Herzen trägt.
Wenn List im Herzen eines Menschen sitzt, hat er etwas verloren und wird ruhelos. Mit dieser Ruhelosigkeit des Geistes fliegt
das Tao fort. Ich wusste wohl von dem Schwingbaum, würde mich aber schämen, das Ding zu benutzen!‹« Tschuangtse hatte wie
sein Lehrer Laotse große Vorbehalte gegenüber der Technik. Was hätten die beiden wohl zu dem Computer gesagt, auf dem ich
jetzt gerade schreibe?
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Das Tao wirkt lautlos durch seine universelle Gegenwart in allen Dingen.
|21| Warum ist die Welt nur so schwierig? Eine Frage, die die Menschen seit jeher beschäftigt. Ein chinesischer Mythos erzählt,
wie Kung-Kung, ein gehörntes Ungeheuer, die Welt durcheinander brachte. Er stürzte sich auf einen der Himmelspfeiler und beschädigte
ihn. Im Nordwesten brach der halbe Himmel ein, dort wo sich die weibliche Seite des Erdreichs befindet. Spalten taten sich
in der Erde auf, Wasserfluten schossen hervor, Drachen, Schlangen und Bestien griffen die Menschen an, ganze Wälder standen
in Flammen. Die Göttin, die Schöpferin der Menschen und deren gute Mutter, war tief betrübt, dass ihren Kreaturen solches
Leid widerfuhr. Sie machte sich daran, den Himmel auszubessern. Aber Himmel und Erde fanden ihr ursprüngliches Gleichgewicht
nicht vollkommen wieder. Seit diesem Sündenfall neigt das Universum dazu, den Halt zu verlieren, von seinen Pfeilern abzurutschen
und ins Chaos zu versinken.
Laotse erwähnt Kung-Kung nicht. Gewiss aber kannte er den Mythos. Immer wieder weist er darauf hin, dass den Menschen die
Einfachheit des Taos abhanden kam. Statt sich wieder darauf zu besinnen, versuchen sie mit Tricks und Kniffen, die gestörte
Natur zu überlisten. Doch die Entfremdung von der Natur wird dadurch nur noch schlimmer. Die Menschen sollten sich lieber
bemühen, ihr inneres Gleichgewicht zu finden. Dann nämlich erhalten auch die Dinge ihre Balance zurück. Denn die Tao-Kraft
funktioniert wie ein Regelkreis, ein sich selbst regulierendes System.
Ich will in die Tao-Philosophie nichts hineingeheimnissen. Aber mich beeindruckt, dass auch die Astrophysik sozusagen mit
einem Sündenfall im Weltall |22| rechnet. Beim ersten kosmischen Lichtblitz, dem Urknall, muss ebenso viel Materie wie Antimaterie entstanden sein. Dann kam
es zu einem Symmetriebruch. Die Materie überwog um ein Winziges die Antimaterie, und die Materie, aus der wir bestehen, gewann
die Oberhand. Gegensätze bestimmen auch die Elementarteilchenphysik, die die Wechselwirkungen zwischen den kleinsten bisher
beobachtbaren physikalischen
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