Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
meine
Situation. Mit Glück hatte ich den Krieg überlebt und befand mich inmitten einer unermesslichen Trümmer- und Ruinenlandschaft,
die Hitler uns hinterlassen hatte. »Disteln und Dornen«, die auf den Schutthalden wuchsen, soweit die Augen reichten.
Ich las die Worte des Weisen: »Ein guter Führer kennt seine Kraft, wenn er siegt, hält er inne und lässt der Gewalt nicht
freien Lauf. Er kennt seine Kraft, doch prahlt er nicht damit, nur widerwillig macht er von seiner Kraft Gebrauch, er hasst
die Gewalt. Treibt man die Dinge bis ans bittere Ende, geht nichts mehr nach Tao-Art. Doch übst du am Tao Verrat, kommt bald
die Wende.«
Was Tao-Art ist, wusste ich nicht, jedenfalls hatte Hitler diese nicht praktiziert. Laotses Worte klangen wie eine nachträgliche
Untergangsprophetie:
»Ein böses Werkzeug sind Waffen, ein Mensch von Tao-Art benutzt sie nicht. Widerwillig nur greift er zur Waffe, Frieden, Nachdenklichkeit
schätzt er am |17| meisten. Er siegt, aber freut sich nicht daran. Wer sich an Siegen berauscht, ist der Mordlust verfallen, wer aber der Mordlust
verfällt, erreicht nicht sein Ziel in der Welt. Mit Trauer, unter Tränen, soll man der Abgeschlachteten gedenken, mit Trauerriten
feiern den Sieg.«
Ich war mit Wehrsport groß geworden, in der Hitlerjugend. Siegesfanfaren ertönten zu Kriegsbeginn, und germanisches Heldentum
predigten uns die Schulbücher. Gelobt sei, was hart macht, war unser Wahlspruch. Jetzt lernte ich bei Laotse:
»Das Feste und Harte gehört dem Tode, das Weiche und Schwache gehört dem Leben. Daraus folgt: Durch Waffenhärte gewinnst du
nichts.« Und weiter: »Wie weich und schwach ist der Mensch, wenn er geboren wird, wie fest und stark, wenn er stirbt. Weich
und biegsam sind Kräuter und Bäume, wenn sie entstehen – sterben sie ab, sind sie trocken und dürr. Festigkeit und Härte sind
des Todes Begleiter, das Weiche und Schwache sind Begleiter des Lebens. Daraus folgt: Sind die Waffen stark, siegen sie nicht,
ist ein Baum stark, wird er gefällt. Das Große geht an sich selbst zu Grunde, das Weiche und Schwache obsiegt.« Und noch einmal:
»Was andere lehren, das lehre ich auch: Ein Balkenstarker nimmt kein gutes Ende! Das soll der Ausgangspunkt meiner Lehre sein!«
Noch nie hatte ich dergleichen gehört oder gelesen. Viel später erst erschloss sich mir die historische Dimension dieser Sätze.
Im gleichen Zeitraum, als in China der Tao Te King entstand, schwor Ashoka, der große indische Herrscher und Buddha-Verehrer,
öffentlich dem Krieg ab. In Israel predigten die Propheten gegen den Krieg, und der Grieche Sophokles legte Antigone die Worte
in den Mund: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich geboren.«
Durch die ganze Menschheitsgeschichte zieht sich der Widerstand gegen den befohlenen Mord. Und mit welcher Wirkung? Mit durchschlagendem
Erfolg gewiss nicht. Hätte es aber nicht immer wieder diese Stimmen gegeben, die wie Laotse der Gewalt und dem Hass Einhalt
geboten, wären die Menschen längst im eigenen Blut ertrunken.
Die Geschichte ist keine Tragödie. Durch alle Bedrohungen, Katastrophen und Gefahren begleitet uns ein Wärmestrom, der immer
wieder für kurze Zeit an die Oberfläche gelangt und Trost und Erleichterung bringt, wie bei Laotse, dem Tao-Freund. Wie bei
Martin Luther King, dem schwarzen Pfarrer und Bürgerrechtskämpfer, der im vorigen Jahrhundert in den USA den Schwarzamerikanern
die Gleichberechtigung erstritt. Den gewaltfreien Widerstand hatte Martin Luther King von Gandhi und dessen Freiheitskampf
in Indien gelernt, und Ghandi wiederum war bei Laotse in die Schule gegangen, beim großen |18| Buddha sowie bei Jesus. In den 1980er Jahren ließ sich die Friedensbewegung der Bundesrepublik mit dem Lied auf der Straße
vernehmen: »Wir wollen wie das Wasser sein, das weiche Wasser bricht den Stein.« Ein Zitat aus dem Tao Te King, wo es weiter
heißt:
»Nichts ist nachgiebiger und weicher als Wasser, doch gibt es nichts wie das Wasser, das Hartsein und Starksein bezwingt.
Das Schwache besiegt die Stärke, das Weiche besiegt die Härte, wer in aller Welt wüsste das nicht!« Denn: »Höchste Güte ist
wie Wasser: Wohltätig ist es und nützt den zehntausend Wesen, ohne mit ihnen zu streiten. An niedrigen Orten, die alle verachten,
weilt es, darin der Tao-Bewegung ähnlich.«
Tao in Theorie und Praxis
Tao-Philosophie – der Begriff klingt esoterisch, vielleicht, weil man ihn nicht
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