Die Wesen (German Edition)
oben ist dein Vater, aber vor der Tür stehen noch zwei andere Männer. Typ Tscheka. Die Tscheka gibt es zwar nicht mehr, aber ich könnte schwören. Sei bloß vorsichtig.“
„Aber ich muss irgendwie zu meiner Mutter.“
„Komm! Ich hab eine Idee.“
Wenig später öffnete sich die Tür zum Krankenzimmer der Intensivstation und Vera schob ein frisch bezogenes Bett herein.
„Du kannst jetzt rauskommen, Laima.“
„Laima“, sagte ihr Vater verwundert.
„Schrei nicht so, Papa. Von deinem Bassbariton fällt noch das ganze Krankenhaus zusammen. Danke, Vera. Auch wenn es hier unten etwas unbequem war, hat es gut geklappt.“
Laima kletterte aus dem Gestänge des Bettes.
„Hallo Mama“, sagte sie und nahm die Hand ihrer Mutter.
„Sie sieht schlimm aus“, sagte ihr Vater. „Aber warum macht ihr hier so einen Zirkus? Was ist los?“
„Ich gehe dann wieder“, sagte Vera, „sonst fällt denen da draußen noch auf, dass ich nicht wieder rauskomme.“
„Die da draußen? Wer da draußen?“
„Schrei nicht so! Danke, Vera.“
„Nichts zu danken. Ich habe deiner Mutter zu danken. Mein Gott, ich rede schon so, als wäre sie tot.“
Vera verließ schluchzend das Zimmer.
„Du willst morgen wieder abreisen? Du bist doch gerade erst gekommen. Und was heißt, du weißt nicht, was die von dir und deiner Mutter wollen?“, fragte ihr Vater, nachdem sie ihm alles erzählt hatte.
„Bist du sicher, dass du nichts mit den Drogen zu tun hast?“
„Papa, bitte!“
„Wenn die Polizei und die da draußen dich suchen, bist du nirgends sicher. Außerdem brauchen wir eine gute Tarnung, wenn ich dich zum Flughafen bringen soll. Und einen neuen Pass. Wie heißt der Kollege von deinem Professor? Dr. Wie?“
„Dr. Wu. Von der chinesischen Botschaft.“
„Wu?“
„Leise, Papa, wirklich.“
„Darum kümmere ich mich. Die Bretter ...“
Mit einem Krachen flog die Tür auf und zwei Männer mit gezückten Waffen stürmten herein.
Laima stürzte sich aus dem halb geöffneten Fenster auf das Vordach. Sie befand sich im ersten Stock.
Mit einem lauten Klirren sprangen die Männer einfach durch die Scheibe hindurch.
Laima ließ sich vom Dach fallen und rannte Richtung Wald. Beide Männer landeten fast gleichzeitig auf den Füßen, die Pistolen im Anschlag. Mit großen Sätzen wurde der Abstand zwischen Laima und ihren Verfolgern immer kleiner. Sie erreichte den Fichtenwald. Sie stolperte über den unebenen Sandboden. Sollte das Rennen kein Ende mehr nehmen? Wie wäre es, wenn sie sich einfach fallen ließe?
Schüsse. Kugeln schlugen neben ihr in die Bäume. Nein. Sie würde nicht aufgeben. Außerdem hatte sie einen Vorteil. Sie kannte sich hier aus. Nicht weit von hier hatten sie früher Erdhöhlen gegraben. Mit etwas Glück schaffte sie es bis dahin. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Diese Männer waren keine Polizisten, die man so leicht abschütteln konnte. Sie wollten sie auch nicht festnehmen. Sie wollten sie töten.
Laima lief so schnell sie konnte. Sie versuchte, Haken zu schlagen. Das Gelände war uneben und hügelig. Hinter der nächsten Kuppe sollte es sein. Lange war es her, dass sie das letzte Mal hier war. Wenn sie das Loch nicht fand? Oder es das Loch gar nicht mehr gab? Wenn es eingestürzt war? Oder die Männer sie trotzdem fanden? Sie lief mit letzter Kraft den Hügel hoch. Dann kam die Senke.
Ja, hier war es. Dort zwischen den Bäumen. Büsche. Büsche standen jetzt dort. Unter einem Busch war immer noch das Loch. Sie rutschte so schnell es ging hinein und bewegte sich nicht mehr. Jetzt war ihr Schicksal besiegelt. Es lag nicht mehr in ihrer Hand. Sie lauschte. Ein Knacken. Sie duckte sich tiefer in das, was von der Höhle übrig war. Sie lauschte immer wieder. Vielleicht durchkämmten sie systematisch den Wald? Vielleicht kamen sie mit Baggern und Dynamit? Es war ihr egal. Sollten sie mit ihr machen, was sie wollten.
Als sie aufwachte, fühlte sie sich wenig ausgeruht. Alle Knochen taten ihr weh. Ihre Kleidung war feucht vom Sand und klebte ihr am Körper. Laima war hungrig und durstig. Sollte sie aus ihrem Versteck kommen, oder warteten die Jäger nur darauf? Sie beschloss, dass es ihr egal war. Vor Angst in diesem Loch an Rheuma zu verrecken, war nicht das Ende, das sie sich vorgestellt hatte.
Der Abendhimmel tauchte alles in ein Orangerosa, das nicht zu ihrer Stimmung passen wollte.
Wohin? Hierbleiben war eine schlechte Alternative. Zu ihrem Vater? Auch dort warteten sie
Weitere Kostenlose Bücher