Die Wiedergeburt
wieder lauschte sie, versuchte unter ihren eigenen Schritten die eines Verfolgers auszumachen. Sie spielte mit dem Gedanken, stehen zu bleiben. Womöglich würde er dann im Dunkeln an ihr vorübergehen, ohne sie zu bemerken. Oder er stolpert geradewegs über mich. Abgesehen davon – was, wenn es ein Vampyr war? Er könnte jetzt neben ihr stehen, ohne dass sie ihn hörte oder seine Nähe spürte. Es gibt nur noch einen Vampyr! , schalt sie sich, doch die Vorsicht und das Wissen, das sie sich über die Jahre zu eigen gemacht hatte, ließen sich nicht so leicht abschütteln. Obwohl sie versucht war, innezuhalten und sich davon zu überzeugen, dass wirklich niemand die Dunkelheit mit ihr teilte, ging sie weiter.
Am Ende des Durchgangs wich die Schwärze. Nebelfinger tasteten zwischen den Häusern hindurch, schwebten wabernd über dem Boden und verdichteten sich zunehmend. Vor Alexandra wand sich der Weg einen steilen Abhang hinab, flankiert von schmutzig grauen Häusern, die – zwölf Stockwerke in die Höhe ragend – den Himmel verdunkelten. Die verkommenen Steinbauten stemmten sich gegen den Hang, windschief und baufällig. Die Gasse war so schmal, dass das Tageslicht selbst bei schönem Wetter kaum das Pflaster erreichte. Jetzt war der Weg in tiefe Schatten gehüllt, die nur hin und wieder vom spärlichen Schein einer Laterne durchbrochen wurden. Hier lebten die Ärmsten der Armen, hausten dicht gedrängt in heruntergekommenen Ruinen, deren Fenster größtenteils zugemauert waren, teilten sich Keller und Hinterhöfe mit Ratten und Ungeziefer. Der Gestank von verrottendem Unrat und Kloake, der sich zwischen den Gebäuden und in den schmalen Durchgängen eingenistet hatte, hing wie eine Dunstglocke über dem Close.
Die Nacht war noch nicht vollends hereingebrochen, trotzdem war niemand mehr unterwegs. Zu groß war die Furcht der Menschen davor, dass der Wahnsinnige Schlächter , dessen Morde während der vergangenen Wochen die Titelseiten der Gazetten gefüllt hatten, noch immer sein Unwesen trieb. In Wahrheit war es die Ushana gewesen, eine der Kreaturen des Unendlichen, die sich in den engen Wynds und Closes ihre Opfer geholt hatte. Jetzt, da es keine Vampyre mehr gab, die den Menschen nachts das Leben nahmen, würden sie sich bald wieder gegenseitig die Kehlen durchschneiden oder von den Krankheiten dahingerafft werden, die ihnen das Ungeziefer brachte.
Mit raschen Schritten folgte Alexandra der Gasse, tiefer in den nebligen Close hinein. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass ihr Verfolger noch da war. Er lauerte in den Schatten des Durchgangs und würde erst heraustreten, wenn sie außer Sichtweite war. Wer, zum Teufel, bist du? Konnte es Lucian sein? Nein, nicht während des Tages. Im Halbdunkel des Close mochte er sich selbst bei Tag ohne Schwierigkeiten bewegen können, doch ihr Verfolger war bereits auf der Royal Mile hinter ihr gewesen. Dort war es zu hell für einen Vampyr, selbst für einen mit Lucians Fähigkeiten. Womöglich war es einer der Jäger? Nach Gavrils Besuch durchaus denkbar. Wenn Vladimir erfuhr, dass sie weder bereit war, sie bei der Jagd auf Lucian zu unterstützen, noch ihnen das Kreuz zu geben, würde er das als Kriegserklärung auffassen.
Ohne sich umzusehen, ging sie zügig voran und hielt sich an der ersten Abzweigung nach links. Kaum war sie um die Ecke, rannte sie los. Der Regen wurde stärker, schlug ihr ins Gesicht und durchnässte sie binnen weniger Augenblicke bis auf die Haut. Das Pflaster war nass und rutschig, sodass sie aufpassen musste, wohin sie trat. In einem wilden Zickzackkurs folgte sie immer weiteren Abzweigungen, von denen sie hoffte, sie würden sie nicht in eine Sackgasse führen. Einmal fand sie sich in einem winzigen Hinterhof wieder, der von allen Seiten von hohen Häuserfassaden umgeben war. Hastig machte sie kehrt und folgte dem Mary King’s Close tiefer in sein labyrinthartiges Inneres. Inzwischen war es dunkel geworden. Der Nebel hüllte den Close in gespenstische Stille. Lediglich die vereinzelten Laternen trachteten danach, die zähe Suppe zu durchdringen, helle Lichtpunkte, die, sobald sie sich einige Schritte entfernte, rasch von dem grauen Schleier aufgesogen wurden.
Wann immer sie innehielt, um sich zu orientieren oder die Richtung zu wechseln, glaubte sie das leise Echo von Schritten in der Dunkelheit zu vernehmen. Nicht zu nah, aber auch nicht allzu weit entfernt. Alexandra folgte der Gasse um einen Knick und hielt abrupt inne,
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