Die wilden Jahre
das Schiff auslief, der eine an Land, der andere an Bord, und sie sahen beide, wie rasch die Entfernung wuchs. Als Martin vom Kai ging, fühlte er, daß er nicht nur dem Schiff, sondern auch seiner Jugend den Rücken kehrte.
Das Leben der Freunde gabelte sich in zwei entgegengesetzte Richtungen.
Kurz nach der Abreise des jungen Lessing wurde Martin zur Wehrmacht einberufen.
Felix kämpfte um die Einreise seines Vaters; die amerikanische Behörde sagte zu, aber der Instanzenweg brauchte Zeit – Felix schaffte es und teilte es dem Vater brieflich mit.
Als Antwort erhielt der Dreiundzwanzigjährige die Nachricht, daß sein Vater in der Kristallnacht gelyncht worden war und daß der alte Ritt den Mord angestiftet hatte.
Es war ein Schlag, den Felix nie verwinden konnte.
Er quälte sich mit Vorwürfen, daß er die Einwanderungsbehörden nicht mehr bedrängt hatte, und immer heftiger wuchs sein Haß auf das Land, in dem sein Vater geblieben war.
Haß wurde zu seiner Krankheit und zu seiner Stärke. Er kompensierte ihn mit dem Glauben an das Land, das ihn aufgenommen hatte. In Amerika wollte er nur Licht sehen, in Deutschland nur Nacht. Aus dem deutschen Einwanderer wurde ein amerikanischer Patriot, der zielstrebig alles in sich ausmerzte, was ihn an seine Heimat erinnern wollte.
Felix sprach nicht mehr deutsch, las keine Bücher in dieser Sprache, nicht einmal die seiner Gefährten im Exil; er verübelte es ihnen, wenn sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Deutsch wollte er erst wieder sprechen, wenn er Germany als Vorhut der Strafe betrat.
Er fieberte dem Kriegseintritt Amerikas entgegen. Er begann, dem imponierenden mächtigen Land zu verübeln, daß es nicht gleich auszog. Er bekämpfte seine Ungeduld mit Schnaps, wurde zum sporadischen Trinker, sooft das Bild der lodernden Flammen, der johlenden Massen und gequälten Menschen ihn folterte. Wenn er betrunken war, zeigte er sich von faszinierender kalter Intelligenz. In den letzten Monaten vor dem Kriegseintritt der USA betrank er sich beinahe täglich.
Der japanische Überfall auf Pearl Harbour machte ihn nüchtern. Felix, der Individualist, wurde Soldat aus Überzeugung, landete mit dem Expeditionskorps in Nordafrika, kämpfte im amerikanischen Brückenkopf bei Nettuno und meldete sich freiwillig zu einer Einheit der Fallschirmjäger, die bei der Invasion als erste über dem Atlantikwall abspringen sollte.
Er war einer der acht Überlebenden dieser Kampfgruppe und sollte zur Erholung nach England gebracht werden. Felix weigerte sich, die Front zu verlassen, und raste mit den amerikanischen Panzern wie im Taumel quer durch Frankreich. Er kam an feldgrauen Kolonnen deutscher Gefangener vorbei und gestand sich verdrossen, daß sie nicht wie Mörder seines Vaters aussahen. Er schluckte gewaltsam diese Gedanken hinunter; sie schmeckten nach Schnaps, zu dem er wieder griff, wenn er verzweifelte.
Die alliierten Truppen erreichten Deutschlands Westgrenze. Felix Lessing wurde zum Captain befördert, gegen seinen Willen aus der kämpfenden Truppen gezogen und, weil er Deutsch wie ein Deutscher sprach, der Abteilung für psychologische Kriegführung zugewiesen. Er war verwundert und verärgert, wie leicht ihm die Muttersprache fiel.
Felix vernahm Gefangene und sprach Propagandasendungen. Seit Wochen kam er erstmals mit deutschen Zivilisten zusammen, mit Frauen, Kindern, Ruinen. Noch immer nährte er seinen Haß. Er schirmte sich gegen außen ab; aber seine verwundbarste Stelle lag im Innern, war sein Herz, ein Erbteil des alten Kommerzienrates, das die Mordbrenner nicht arisieren konnten.
Felix stemmte sich dagegen; er sah an Frauen vorbei, durch Kinder hindurch und erlaubte sich nur den Blick auf Grauen, Gräber und Greuel. Er trank, fluchte und schuftete für die Propaganda, an die er nicht mehr glaubte; er hielt sie für nötig und wußte, wie töricht sie war; er merkte, daß er log, und trank noch mehr.
Sie lachten und stöhnten in einem Atem, im selben Takt. Das Gesicht der jungen Frau glühte wie im Fieber. Sie liebte unter Zeitdruck, rasch und gierig. Sie fragte nicht, woher Felix kam, und wollte nicht wissen, warum er so gut deutsch sprach; sie sah nicht mehr, daß er eine andere Uniform trug als ihr Mann.
Sie hatte das Krachen der Bomben satt und das Krepieren der Granaten, das Warten auf die Post und die Schlange vor dem Milchladen, die Sorge um ihr Kind, und so hatte sie den Händen und Lippen des Fremden entgegengefiebert, der langsam Feuer
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