Die wilden Jahre
noch mehr preisgaben.
Viele der Herrenmenschen hatten wieder zu ihrer kleinbürgerlichen Herkunft zurückgefunden. Unter den ältesten Kämpfern der Bewegung gab es nach dem Zusammenbruch die erfolgreichsten Denunzianten. Der Verrat wurde im Lager fett wie ein Mastschwein; man tat es aus Angst oder aus Liebedienerei, für eine Zigarette oder einen zusätzlichen Schlag Suppe. Man verkaufte die Kameraden, den Vorgesetzten, den Mitkämpfer; die Internierten unterschrieben wilde Anklagen gegen den Stubengenossen, mitunter auch falsche.
Die verschworene Gemeinschaft, die Friedrich Wilhelm Ritt immer gepredigt hatte, erlebte er nun in der Praxis: Gestern war ihm ein Kanten Brot gestohlen worden, heute fehlte ein Stück Seife. Er hinkte, weil er, als er sich nach der Zigarettenkippe eines Wachtpostens bücken wollte, von einem alten Kameraden gegen einen Zementpfosten geschleudert worden war.
So paradox es schien: körperlich ging es ihm seit seiner Festnahme besser als zuvor. Er arbeitete in frischer Luft; der Entzug des Alkohols und das einfache Essen bekamen seiner Leber; sein zerlaufenes Gesicht wurde fester und verlor die Blässe.
Selbst die Angst, die ihn anfänglich nachts gequält hatte, verlor sich allmählich.
Es geschah nicht viel im Lager.
Eigentlich, dachte Friedrich Wilhelm Ritt, sind diese Amerikaner ganz anständige Burschen. Gewiß, das Essen war schlecht, und viel militärische Disziplin zeigten die Wachtposten auch nicht. Aber da war doch, so meinte er, unverkennbar das angelsächsische Element, die nordische Verwandtschaft: Sauberkeit, Haltung, Ordnung.
Das Lager zerfiel in Cliquen, die einander bekämpften.
Einige Internierte wurden als Zeugen nach Nürnberg gerufen, andere als Angeklagte zu den Kriegsverbrecherprozessen nach Dachau überstellt. Die ersten deutschen Anwälte besuchten die Häftlinge, und die ersten Insassen wurden entlassen.
Vom Blockleiter bis zum Gauleiter wurde die Verteidigung für das zu erwartende Entnazifizierungsverfahren vorbereitet. So sinnlos es schien: selbst hier unter den alten Kämpfern bedachten sich die Männer, die einander denunziert hatten, mit ›Persil-Scheinen‹; mit Attesten, die sie sich ausstellten, um einander zu entlasten.
Unruhe entstand, als ein neuer Captain in das Lager kam, den noch kein Internierter bisher gesehen hatte. Ein junger, aufgeschlossener Offizier, an die Dreißig, mit dunklen gewellten Haaren und einem alerten Gesicht.
In den Unterkünften der Gefangenen wurde dieses Ereignis heftig erörtert. Der frühere Reichstagsabgeordnete war in einer Viererstube, die außer seinem alten Kampfgefährten Silbermann von der Gauleitung noch zwei weitere Gefangene teilten: Dr. Link, Vorsitzender eines Sondergerichts, ein magenkranker hagerer Mann mit faltigem Hals, schlaffem Karpfenmund und kleinen runden Fischaugen, die früher den Angeklagten vor dem Sondergericht gequält hatten, und Hanselmann, ein rotgesichtiger kahlköpfiger Mann, der im bürgerlichen Leben den Beruf des Henkers versehen und die von Link verhängten Todesurteile an Hunderten von Schwarzsehern, Schwarzhörern, Schwarzschlächtern und Schwarzhändlern vollstreckt hatte.
Dr. Link hielt es für eine amerikanische Zumutung, mit einem Burschen vom Niveau Hanselmanns eingesperrt zu sein. Den moralischen Unterschied sah er nicht, im Gegensatz zu dem US-Lagerkommandanten, der sie bewußt zusammengelegt hatte.
Zwischen den beiden kam es zu ständigen Zusammenstößen, die unterhaltsam für die anderen Lagerinsassen waren, wenn die Internierten auch meist auf Seite des Sonderrichters standen, der heute, in der Hoffnung, von Hanselmanns Gesellschaft erlöst zu werden, die Meinung vertrat, der neue Captain würde der neue Kommandant des Lagers.
»Dazu ist er noch zu jung«, sagte Silbermann. Sein aufgeschwemmtes Gesicht war hohl geworden; der Birnenkopf schrumpfte. Doch dieser Mann, vor kurzem noch die rechte Hand des Gauleiters, wirkte gefaßter als die anderen drei in der Barackenstube.
Friedrich Wilhelm Ritt hatte es inzwischen aufgegeben, hinter Gerüchten herzujagen. Er war mit seinem kleinen Leben soweit ganz zufrieden. Einmal würde die Schranke hochgehen, und wenn er sich auch über die Zukunft der Ritt-Werke mit den Erben von Lessing & Kahn vergleichen müßte: schließlich hatte er immerhin elf Jahre Arbeit in die Firma investiert. Kahns hatte er geholfen; an Lessing freilich dachte er lieber nicht.
Jetzt bereute der Internierte auch, daß er für Martin, seinen Sohn,
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