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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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haben doch sicher mit den Nazis einen Zusammenstoß gehabt?«
    »Wer hat das nicht gehabt?« erwiderte er müde.
    »Waren Sie im KZ?« fragte sie, die Stimme dämpfend.
    »Nein.« Gereizt setzte er hinzu: »Und wenn ich schon in einem Lager gewesen wäre …«
    »Nicht böse sein, Herr Ritt«, entgegnete sie, »ich hab' bestimmt nichts gegen diese Menschen – aber es gibt doch überall solche oder solche. Oder nicht?«
    Das Gerede war ihm gleichgültig; er hatte andere Sorgen. Er mußte sich für einen der Berufe entscheiden, wie sie das Jahr neunzehnhundertsiebenundvierzig zur Auswahl stellte. Er konnte Holzfäller werden, Schwarzhändler, Studiosus, Hilfspolizist, Ost-West-Agent, Benzinschieber, Klubmanager, Spruchkammerermittler, Automarder, Buntmetalldieb oder Schnapsbrenner. Er entsann sich der vier Semester Nationalökonomie, die er vor dem Krieg studiert hatte, und dachte: die Volkswirtschaft ist durch die Zigarettenwährung zu blauem Dunst geworden …
    Zunächst einmal wollte er abwarten und sich vom Krieg erholen, obwohl er nicht müde war. Er hatte Zeit und genoß sie. Nach einem Jahrzehnt Leben, das man ihm gestohlen hatte, sollte es ihm auf Wochen und Monate nicht mehr ankommen.
    Einstweilen durchstreifte er die Stadt nach Gelegenheiten, nach Mädchen, Zigaretten und Brotmarken. Er sammelte Erlebnisse und nahm sie nicht ernst. Entschlossen, die Militärdoktrinen in grimmiger Umkehr für das Zivilleben zu nutzen, erkundete er ein Schlachtfeld: der Soldat lernt das Gelände kennen und richtet es zur Verteidigung und Angriff ein.
    Die Luft war lind. Die Sonne hatte zwischen den Mauern der Stadt die Wärme gespeichert. Der Frühling lockte die Menschen auf die Straßen, in die Parks, in die Grünanlagen, aus der Stadt hinaus. Die Passanten gingen paarweise oder zu dritt; die Schuttberge versteckten ihre häßlichen Fassaden hinter wucherndem Grün. Die Knospen öffneten sich wie Fäuste, die nie mehr drohen wollten.
    Eine Horde Jungen scherzte mit amerikanischen Soldaten. Die Alten wirkten jünger, die Müden frischer, die Hungrigen satter. Die Nachbarn mochten sich wieder, und irgendwo im Osten tönte feierlich eine Glocke. Die Menschen, die sie hörten, blieben stehen und sahen sehnsüchtig nach oben, als läute diese einsame Glocke den Frieden ein.
    Die Mädchen lächelten. Niemand sprach mehr vom Krieg. Die Fenster der ausgebrannten Ruinen sahen nicht mehr aus wie tote Augenhöhlen, sondern waren ganz gewöhnliche Löcher in der Mauer, die mit Mörtel, Holz und Glas wieder zu Fenstern gemacht werden konnten.
    Martin ging allein und ziellos durch die Straßen. Er merkte heute zum erstenmal nach Jahren hinter Gefängnismauern und Stacheldraht, daß er einsam war, ein Fremder zwischen fremden Wänden, ein Heimkehrer ohne Zuhause, ein Mann, der gern seine Stimme gehört hätte, aber denken mußte, weil er nicht sprechen konnte.
    Er traf seinen früheren Mitschüler Rothauch, mit wenig Freude, da er ihn schon damals nicht hatte leiden können. Als er jetzt dessen schlaffe Hand spürte, wußte er, daß sich daran nichts geändert hatte.
    »Du?« sagte Rothauch. »Du lebst noch, Ritt?«
    »Zweifelst du daran?« fragte Martin lachend.
    »Du bist schon der vierte«, sagte er, »aber Maier zählt nur halb, beide Beine ab, der arme Hund – Bömmelmann ist noch in russischer Gefangenschaft.« Er schichtete Schicksale aufeinander wie Ziegelsteine. »Sollte er wirklich nach Hause kommen, dann hat unsere Klasse fünf Überlebende. Diese Quote ist nicht einmal so schlecht. Siehst ja gut aus«, stellte Rothauch fest, »hast dich rechtzeitig klein gemacht? Schöne Scheiße, was?«
    »Sicher.«
    »Der Zusammenbruch. Wer hätte das gedacht? Wir hätten uns vorsehen sollen. Wir waren eben Idealisten. Ich kämpfe noch um meine Zulassung zum Weiterstudium, machen mir Schwierigkeiten, weil ich bei der SS war.« Er sprach mit gedämpftem Stolz. »Als ob es einen von uns gäbe, der nirgends dabei war. Du warst doch sicher auch in der Partei – oder?« Rothauch lächelte wie ein Fuchs.
    »Nein.«
    »Ist ja prima!« Das Lächeln in Rothauchs Gesicht wurde starr. »Dann könntest du mir ja für meine Entnazifizierung so einen Wisch ausstellen?«
    »Vielleicht.«
    »Tu nicht so, alter Junge.« Rothauch lachte gepreßt und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst doch nicht auch so einer sein. Man kann seine Wunder erleben heute: stell dir vor, der Lessing ist da.« Er sprach flink, geschwätzig. »Kennst du doch noch: Felix

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