Die wilden Jahre
sagte er und streckte ihm das Telegramm hin.
Sein Gast winkte ab.
Das Blumenbeet längs des Hauses war vom Unkraut überlagert; aber auch die Schlingblätter waren grün und streckten sich lichthungrig nach der Sonne. Warum ihn die Amerikaner gehängt haben? überlegte Martin. Wegen der Kristallnacht? Wegen Mißhandlung von Fremdarbeitern?
Gleichviel. Dieser Tod ist abscheulich. Man kennt ihn nur, wenn man in der Zelle auf das Erschießungspeloton gewartet hat. Bei mir sind die Russen noch rechtzeitig gekommen. Ihn konnte nichts mehr retten. Bei ihm konnten keine Russen kommen. Es war kein Krieg mehr: Friede.
Schluß. Aus. Tabula rasa. Eine klare Lösung. Erspart mir viel. Ihm vielleicht noch mehr: ein Leben im Zuchthaus; mit mir als Wärter. Schade um den hübschen Garten. Wenn die Polen jetzt nicht das Unkraut jäten, werden sie in diesem Jahr nicht mehr damit fertig …
Martin ging in die Stadt zurück, sein Schritt wurde wieder fest. Er entlief dem eigenen Schatten, maß wieder tote Schußwinkel und suchte Deckungsmulden. Er merkte es und lachte über sich.
Einen Moment lang sonnte sich sein Gesicht. Solange sein Blick blind war, spürte er das Prickeln auf der Haut. Der Frühling narrte ihn. Er spürte ihn in den Poren und in seinem Atem. Er wunderte sich, daß er nicht mit Landsberg haderte, das ihn um seinen Haß betrogen hatte. Vielleicht gefiel ihm auch jetzt der Tag, weil er wieder menschliche Regungen haben durfte.
Wieder ging er über Trümmer und Gräben, durch die toten Straßen der Stadt, die aussahen wie ausgeblutete Adern. Er sah die jungen Mädchen an, die mit GIs in den Jeeps fuhren. Ihre bunten Kopftücher flatterten wie Wimpel der Lebenslust. Er dachte an die Fraternisierungsverbote, die der General erlassen hatte. Als ob Hannibal mit keiner Römerin geschlafen hätte und Cäsar mit keiner Ägypterin; die Kreuzritter nicht mit Sarazeninnen – und ich nicht mit Polinnen, Tschechinnen, Russinnen, Italienerinnen und Griechinnen. Du kannst den Tod befehlen, mon général, aber nicht das Leben reglementieren, überlegte er, Soldaten werden für das Abendland oder das Morgenland oder das Niemandsland, für den Kommunismus, den Faschismus, den Nationalismus, den Sozialismus, den Kapitalismus oder den Idiotismus sterben, aber vorher werden sie, wo auch immer, mit Mädchen, die bunte Kopftücher tragen, in Wagen sitzen.
Martin stand Schlange beim Wohnungsamt; er brauchte eine Zuzugsgenehmigung, mußte aber, um sie zu erhalten, eine Arbeitsbescheinigung vorzeigen. Diese wiederum gab es nur gegen Quartiernachweis, an den auch die Ausgabe von Lebensmittelkarten gebunden war.
Nach zwei Tagen erfuhr er, daß der Entlassungsschein die Zuzugsgenehmigung ersparte. Fluchend drehte er sich weiter auf dem Karussell der Behörden: Zimmereinweisung gab es nur gegen Arbeitsnachweis; Arbeitsbeschaffung nur gegen Wohnungsnachweis. Die Bürokratie war so machtlos wie mächtig. Aus Hilflosigkeit spielte sie Größenwahn.
Beamte, die in den Ämtern geblieben waren, da man sie als Fachleute brauchte, wagten wegen ihrer Vergangenheit nicht, den Ersatzleuten zu widersprechen, die man über sie gesetzt hatte; diese waren zwar politisch einwandfrei, verstanden aber meist nicht viel von ihrer Arbeit.
Martin stand wieder vor dem Wohnungsamt Schlange, wurde nach zwei Stunden vorgelassen und sollte nun an eine Behörde verwiesen werden, die ihn gestern hierher geleitet hatte.
Er brüllte den Beamten nieder; es war die Sprache, die der Mann verstand.
»Sie haben hier nicht zu schreien«, erwiderte er schüchtern. »So kommen Sie zu gar nichts.« Er wollte den lästigen Besucher mit sanftem Vorwurf zur Räson bringen. Dann sah er Martin an, der angespannt wie zum Sprung dastand, und fing einen Blick auf, der ihm Angst machte.
»Also, was wollen Sie?« fragte der Beamte, er hielt den Kopf schief.
»Was zu essen«, sagte Martin, »ein Zimmer und von mir aus auch einen Arbeitsplatz.«
»Waren Sie in der Partei? Oder in einer Gliederung?« fragte der Beamte streng; diese Zauberformel war im Mai 1947 noch immer die Zwangsjacke für renitente Burschen.
»Nein.«
Der Mann im Stuhl wurde unruhig.
»Auch nicht in der Hitlerjugend?« fragte er.
»Auch nicht in der Hitlerjugend.«
Der Beamte schüttelte den Kopf; er deutete dezent und mechanisch an, wie skeptisch er diese Behauptung aufnehmen müsse.
»Und Sie haben schon vor dem Krieg in Frankfurt gewohnt?«
»Ja.«
»Sie sind nicht vorbestraft?«
»Doch«,
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