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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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hörte Schritte und straffte sich. Seine Lippen waren aufeinandergepreßt, weiß, blutleer.
    Der Mann in der Tür hatte einen dunklen Wuschelkopf und trug eine überlange Jacke. Sein Blick wirkte unsicher, er hatte Augen, die nicht auffallen wollten.
    »Was gibt's?« fragte er mit hartem Akzent.
    »Wer sind Sie?« fragte Martin.
    Es sah aus, als wollte der Fremde die Tür zuschlagen.
    Die Augen des Mannes aus Polen trafen sich mit den Augen des Delinquenten aus dem Wehrmachtsgefängnis. Die Augen des Mannes, der in einem Kanalloch den Warschauer Aufstand überlebt hatte, während seine Familie, sein Volk vernichtet worden war, trafen sich mit den Augen des Mannes, dessen Hinrichtung immer wieder verschoben wurde. So sehr sich die beiden Männer unterschieden, das gemeinsame Leid schien eine unbestimmte Gemeinsamkeit zu schaffen.
    »Ich suche meinen Vater«, erklärte Ritt.
    Der Pole begriff, wer in der Tür stand. Sein Gesicht verschloß sich. Dann hob er den Kopf, als horche er dem Klang der Worte Martins nach. Der Mann aus Polen deutete auf das Wohnungsschild.
    »Meinen Sie – den da?«
    »Ja.«
    »Er ist nicht hier.«
    »Wo finde ich ihn?«
    »Kommen Sie doch herein«, sagte der Mann in der offenen Tür zögernd.
    Die Teppiche fehlten, auch zwei Bilder an der Wand. Sonst stand noch alles am alten Platz, aber es war seltsam fremd.
    »Wissen Sie etwas von ihm?« fragte Martin.
    »Vielleicht«, versetzte der Pole. »Sie sind also der Sohn?«
    Der Mann im überlangen Sakko sah und erfaßte viel. Er hatte in Polen überlebt, durch spontane Entschlüsse, nach rechts oder nach links zu gehen. Ob man an den Burschen mit der Nickelbrille oder an den Uniformierten mit den Sommersprossen herantrat, konnte Leben oder Tod bedeuten, und zwar Sekunden später schon.
    »Dieses Haus wurde beschlagnahmt«, erklärte der Mann, »Vermögenskontrolle. Einstweilen wurden zwanzig displaced persons eingewiesen.«
    »Verschleppte Personen«, übersetzte Martin, »also Ausländer?« fragte er den Polen.
    »DPs«, erwiderte er hartnäckig. »Mit anderen Worten: vorwiegend Überlebende der Konzentrationslager.«
    Ihre Augen erfaßten einander, und solange verstanden sie sich wieder. Der Pole öffnete die Schreibtischschublade, nahm ein Päckchen Camel, zögerte kurz, dann warf er Ritt eine Zigarette zu, der sie in der Luft auffing, sich beiläufig bedankte und nicht wußte, welch fürstliches Geschenk ihm gemacht worden war, da er noch nicht gemerkt hatte, daß Zigaretten die neue Währung bestimmten.
    »Ihr Vater wurde verhaftet«, sagte der Pole und nahm von Martin Feuer. »Landsberg, Kriegsverbrechergefängnis.«
    Er sah Martin voll an; Spannung zeigte sich in seinen Augen.
    »Und?« fragte Martin.
    Der Pole sah Martin unverwandt an, während er die Schublade noch einmal öffnete und ihr ein Telegramm entnahm.
    »Lesen Sie englisch?« fragte er.
    »Es geht.«
    »Gut«, sagte der Mann. »Setzen Sie sich. Nehmen Sie einen Schnaps?«
    »Gern.«
    Martin setzte sich und betrachtete das geöffnete Telegramm, vom Kriegsverbrechergefängnis Landsberg ordnungsgemäß an die Zivilanschrift von Friedrich Wilhelm Ritt gerichtet, weil man in Landsberg offensichtlich nicht wußte, daß die arisierte Villa mittlerweile für zwanzig DPs requiriert worden war. Es war an eine Frau Ritt gerichtet, die es nicht mehr gab.
    FALLS SIE AUF DIE LEICHE FRIEDRICH WILHELM RITTS ANSPRUCH ERHEBEN STOP BITTEN WIR UM MITTEILUNG BIS MORGEN NEUN UHR STOP WAR CRIME PRISON LANDSBERG.
    Martin las langsam, Wort für Wort. Erst allmählich begriff er, daß er den Vater nicht mehr belangen konnte.
    Er las, trank, rauchte.
    Der Mann mit dem langen Sakko hatte sich abgewandt.
    Martin sah noch einmal auf das Datum und stellte fest, daß die Mitteilung schon fast einen Monat zurücklag.
    Der Pole drehte sich um und betrachtete den Mann in der gefärbten Uniform voll.
    »Noch eine Zigarette?« fragte er leise.
    »Bitte.«
    »Noch einen Schnaps?«
    Martin nahm beides und sagte: »Danke.«
    Dann gab er dem Polen die Hand und stand auf.
    Er dachte an seinen Vater. Vielleicht war es besser so. Vielleicht war das eine nötige, unabwendbare Lösung, dachte Martin. Der Haß gegen den Vater schlug um, trieb wie ein toter Fisch auf dem Rücken, glitschig und steif.
    Er verließ nicht die Wohnung seines Vaters, sondern das Haus eines Toten. Und bald würde diese Villa ohne Teppiche so ohne Erinnerung hinter ihm liegen wie eine Jugend ohne Wärme.
    Der Mann aus Polen folgte ihm.
    »Hier«,

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