Die Winterchroniken von Heratia 1 - Der Verfluchte (German Edition)
seinem Gesicht. Viel zu schlank für das eines Menschen. Ob er wohl ein Utera war? Sie runzelte die Stirn. Utera waren begnadete Magier und furchtbar hochnäsige Geschöpfe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich einer von denen bei diesem Wetter und noch dazu in dieser Kleidung nach draußen wagte. Und einfach so starb. Utera hatten Macht über die Elemente, es würde lange dauern, bis bloße Kälte …
Ein flüchtiger Hauch streifte Serrashils Geist. Ganz leicht nur, wie ein entfernter Gedanke es vielleicht vermochte. Erschrocken zuckte sie zusammen. Ein normaler Mensch hätte es vermutlich gar nicht bemerkt oder es als Illusion verworfen, aber es war Teil ihrer Ausbildung, Gedankenmagie zu erkennen. Sie war nicht in der Lage, ihren Geist selbst auszustrecken, aber sie wusste, wie sie sich gegen derartige Übergriffe verteidigen konnte.
Schnell konzentrierte sie sich auf ihr Innerstes und sammelte all ihre Gedanken und Gefühle darin. Serrashil spürte ihren rasenden Herzschlag. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, dass ihre Haut zu einer undurchdringlichen Mauer wurde, durch die kein fremder Geist dringen konnte.
Als sie sich bereit fühlte und die Augenlider wieder öffnete, zerplatzte ihre Verteidigungsvorrichtung sofort. Ausdruckslose Augen starrten sie an, von tiefer, jedoch völlig teilnahmslos wirkender Schwärze.
Serrashil wich zurück, ihr Atem stockte. Panisch suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit, zwang sich aber krampfhaft, die Ruhe zu bewahren. Der Mann musste wirklich ein Utera sein, wenn er ihren Geist berühren konnte und hier im Schnee überlebt hatte. Er war jedoch definitiv kein normaler Angehöriger dieses Volkes. Ihr war noch nie ein Utera mit grauem oder gar halblangem Haar begegnet, da es unter diesen Wesen als Schande galt, es sich abzuschneiden. Außerdem tendierte ihre Haut eher zu einem Grünstich, war aber sicherlich nicht so unnatürlich weiß wie bei diesem hier.
»Du … lebst noch«, begann sie unbeholfen. Ihre Gedanken überschlugen sich, nervös spielten ihre Finger mit der Kette an ihrem Hals. Am liebsten wäre sie davongerannt, doch sie konnte ihn nicht einfach hier liegen lassen. Am Ende würde er noch sterben.
Der Unbekannte starrte sie weiterhin wortlos an.
»Nun gut, dann will ich dich mal nicht weiter bei deinem, äh, Winterschlaf oder was das hier werden soll stören.« Die Worte sprudelten Serrashil über die Lippen. Ihr war bewusst, dass sie Blödsinn redete, doch sie wusste sich nicht anders zu helfen. Langsam erhob sie sich, den Schnee von ihrer Kleidung klopfend. »Du kannst sicherlich selber heimgehen und ich muss mir keine Sorgen machen, oder?«
Stille.
Nervös biss sie sich auf die Lippe, von einem Fuß auf den anderen wippend. »Von der gesprächigen Sorte scheinst du ja nicht zu sein …« Zum wiederholten Male huschte ihr Blick die Straße entlang.
»Jadestadt«, krächzte er. Seine Stimme klang brüchig, wahrscheinlich war das sein erstes Wort seit langer Zeit.
»Jadestadt? Du willst nach Jadestadt? Das liegt gleich dort drüben.« Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Der Mann starrte sie einen Moment lang an, als hätte er sie nicht verstanden. Dann schloss er die Augen wieder und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.
Serrashil stockte. »Willst du nach Jadestadt? Wir können zusammen gehen, wenn du magst.« Er machte keine Anzeichen, ob er sie verstanden hatte. Vorsichtig stieß sie ihn mit der Spitze ihres Stiefels an.
»He, du!« Immer noch nichts. Für einen Moment dachte Serrashil daran, in die Stadt zu gehen und Hilfe zu holen. Allerdings würde es bis dahin für ihn vermutlich zu spät sein. Sie nahm all ihrem Mut zusammen und kniete sich erneut neben ihn, um ihn hochzuhieven. Schlaff sackte er nach vorne.
Serrashil zögerte keine Sekunde. Sie konnte ihn unmöglich hier liegen lassen. Solange er nicht bei Bewusstsein war, war es ihm auch nicht möglich, ihr mit seinem Geist Schaden zuzufügen. So sammelte sie ihre Kraft und zog ihn ruckartig auf, nur um durch den Schwung fast wieder zu Boden zu stürzten. Er war so leicht! Sie hatte sein Gewicht völlig überschätzt. Unter seiner schwarzen Kleidung und dem Fellmantel musste er nur noch aus Haut und Knochen bestehen.
Umständlich lud sie ihn auf ihren Rücken, um ihn Huckepack zu tragen. Da er fast nichts wog, würde es ein Leichtes werden, ihn nach … Wohin eigentlich? Sie konnte ihn schlecht vor den Toren Jadestadts abliefern.
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