Die Witwen von Paradise Bay - Roman
aus, als würde er bald fünfzig. Sein Haar ist zwar fast grau, mit einigen dunkelbraunen Strähnen, aber immer noch voll. Er hat keine Rettungsringe um die Taille, was an seinem regelmäßigen Joggingprogramm liegt – drei Mal in der Woche – und seiner Weigerung, Süßes, Klebriges oder Fettiges zu essen. Trotzdem habe ich immer damit gerechnet, dass ich irgendwann Witwe werde. Wenn man einen älteren Mann heiratet, ist das nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu vorhersehbar, aber diese Wahrscheinlichkeit kommt nun doch ein wenig früh. Dabei erleiden so viele Männer in der Blüte ihres Lebens einen Herzinfarkt, bekommen Krebs oder eine andere schwere Krankheit! Howies Vater ist mit zweiundfünfzig gestorben, deshalb strengt sich Howie ja so an, gesund zu leben.
Langsam macht mich die Vorstellung eines Lebens ohne Howie panisch. Was auch geschieht, ich werde für ihn da sein. Ich werde ihn zur Chemotherapie fahren, darauf achten, dass er seine Medikamente nimmt, ihm den Strohhalm halten, wenn er durch spröde Lippen Wasser trinkt, ja, ich werde ihm sogar auf die Toilette helfen, wenn es sein muss. Ich werde sein Fels sein, seine Inspiration, der Mensch, dem er für seine Genesung danken wird, wenn es ihm endlich wieder besser geht. Ich stehe auf und gehe ihm entgegen, nehme ihn in den Arm und lege meinen Kopf an seine Schulter. Ich atme seinen vertrauten Geruch ein und beruhige mich augenblicklich. Es ist eine Geste voller Liebe, die ihm Kraft geben und ihm vermitteln soll: Wir beide schaffen das. Ich bin für dich da. Du kannst dich auf mich verlassen.
Zu meiner Verblüffung erstarrt er unter meiner Umarmung, und zu meiner noch größeren Verblüffung entzieht er sich mir. Als er das Wort Scheidung ausspricht, kann ich nur noch fassungslos die Segelboote auf seiner Krawatte anstarren. Plötzlich bin ich selbst auf einem Boot und sinke auf den Grund des Ozeans. Meine Lungen füllen sich mit Wasser, und ich warte verzweifelt darauf, dass mich jemand an die Oberfläche zieht.
Kapitel 2
Lottie
Von der Bettkante aus betrachte ich meinen schlafenden Mann, doch Liebe oder Zärtlichkeit liegen nicht in meinem Blick. Seit beinahe drei Tagen ist er jetzt im Bett, und im Schlafzimmer riecht es allmählich nach ungewaschenem Mann. Im Geiste mache ich eine Liste mit allem, was ich an ihm hasse, angefangen mit den Geräuschen. Wie aufs Stichwort entflieht seiner Nase ein Wimmern, gefolgt von einem heftigen Schnarchen. Ich hasse fast alles an meinem Mann, vom Geruch seines morgendlichen Atems bis hin zu der entsetzlichen Angewohnheit, sich auf die Fingerknöchel zu beißen, bis die Haut dort wund wird. Ich sollte wohl auch die Tatsache hassen, dass er trinkt – ausgerechnet das tue ich nicht. Es gibt gute und üble Trinker, und Ches gehört eindeutig in die erste Kategorie. Wenn er der Typ Trinker wäre, der Beleidigungen lallt und die Faust schwingt, dann würde ich seine Lust auf Hochprozentiges sicher hassen. Aber Ches ist einer von den Trinkern, die lachen und singen und jeden in den Arm nehmen. Bitter und zornig wird er nur bei völliger Nüchternheit. Dann verhöhnt er mich so sehr, dass mir seine Verachtung wie ein Gewicht auf der Brust lastet.
Um der Fairness willen mache ich auch eine Liste all der Eigenschaften, die ich an meinem Mann schätze und bewundere. Er kann alles reparieren, das steht fest. Natürlich hat das auch Nachteile, denn ich darf niemals etwas Neues kaufen, weil Ches den alten Kram wieder zum Laufen bringt. Meine Waschmaschine wird von zwei Drahtbügeln und einer Wäscheklammer zusammengehalten, aber sie funktioniert klaglos, bei jedem Waschgang. Ich träume davon, dass eines Tages ein Lieferwagen mit glänzenden neuen Geräten vor meinem Haus hält, aber solange es Ches gibt, werde ich wohl den mandelfarbigen Kühlschrank und den Herd benutzen müssen, den meine Eltern hiergelassen haben, als sie meiner Schwester und ihrem Mann nach Calgary gefolgt sind.
Ich bemühe mich sehr, an eine weitere lobenswerte Eigenschaft meines Mannes zu denken, nur fällt mir keine ein. Doch, er hat ein Herz für Tiere. Letztes Jahr wurde unser Hund eingeschläfert, und Ches hat geweint, als hätte er das einzige Wesen verloren, das ihn wirklich geliebt hat, und vermutlich war es so. Ich habe mich immer gewundert, wieso Ches der üble Geruch, der im Fell, im Atem, ja, selbst an den Pfoten des Hundes hing, nie gestört hat, denn Ches ist sehr geruchsempfindlich. Aber alles, was wirklich stinkt, scheint ihn
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