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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Das ist eine weitere meiner vielen kleinen Beschwerden: Hin und wieder kommt mir das Essen hoch, manchmal sofort, manchmal später, ohne Grund, einfach so. Ich habe das schon lange, seit dem Krieg, begonnen hat es im Herbst 41, genauer gesagt, in der Ukraine, in Kiew, glaube ich, vielleicht auch in Shitomir. Davon später mehr. Jedenfalls habe ich mich seither daran gewöhnt: Ich putze mir die Zähne, trinke ein Schnäpschen und mache weiter, wo ich gerade aufgehört habe. Zurück zu meinen Erinnerungen. Ich habe mir mehrere Schulhefte gekauft, großformatig, aber mit kleinen Karos, die bewahre ich im Büro in einer abgeschlossenen Schreibtischschublade auf. Früher kritzelte ich meine Notizen auf kleine Karteikärtchen, auch mit kleinen Karos; jetzt habe ich beschlossen, das Ganze zusammenhängend aufzuschreiben. Wozu, weiß ich nicht so recht. Gewiss nicht zur Erbauung meiner Nachkommenschaft. Wenn ich in diesem Moment plötzlich stürbe, sagen wir, an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, und wenn meine Sekretärinnen dann diese Schublade aufschlössen, würden sie sicherlich einen Schock bekommen, die Bedauernswerten, und meine Frau ebenfalls: Die Karten würden schon genügen. Man wird alles rasch verbrennen müssen, um einen Skandal zu vermeiden. Mir ist das egal, ich bin dann tot. Schließlich schreibe ich nicht für euch, auch wenn ich mich an euch wende.
    Mein Arbeitszimmer ist ein angenehmer Ort zum Schreiben, groß, nüchtern, ruhig. Weiße Wände, fast schmucklos, ein Glasschrank mit Warenmustern und im Hintergrund eine große Glaswand, durch die man von oben auf den Maschinensaal blickt. Trotz Doppelverglasung erfüllt das unablässige Klicken der Leavers-Maschinen das Büro. Wenn ich nachdenkenmöchte, stehe ich vom Schreibtisch auf und trete an das Fenster, betrachte die exakt aufgereihten Webstühle zu meinen Füßen, die sicheren und genauen Bewegungen der Weber; ich lasse mich einlullen. Gelegentlich gehe ich hinunter und schlendere zwischen den Maschinen umher. Der Saal ist dunkel, die schmutzigen Fensterscheiben sind blau gestrichen, weil die Spitzen empfindlich sind, sie vertragen kein Licht, und der bläuliche Dämmerschein beruhigt mein Gemüt. Ich gebe mich gern ein wenig dem monotonen und skandierten Geklapper hin, das den Saal beherrscht, diesem metallischen Klopfen mit seinem Zweierrhythmus, der mich in seinen Bann zieht. Die Webmaschinen beeindrucken mich immer wieder aufs Neue. Sie sind aus Gusseisen, grün gestrichen, jede von ihnen wiegt zehn Tonnen. Einige sind sehr alt. Sie werden schon lange nicht mehr hergestellt. Die Ersatzteile lasse ich extra anfertigen. Nach dem Krieg haben wir zwar von Dampf auf Strom umgestellt, aber die Maschinen selbst nicht angetastet. Ich halte Abstand, um mich nicht schmutzig zu machen. Die vielen beweglichen Teile müssen ständig geschmiert werden, allerdings würde Öl die Spitzen ruinieren, daher verwenden wir Grafit, zerstoßenen Bleigrafit, mit dem der Weber die beweglichen Maschinenelemente stäubt, mit Hilfe eines strumpfartigen Beutels, als schwenke er ein Weihrauchgefäß. Die Spitze kommt schwarz heraus, und der Grafit bedeckt die Wände, den Boden, die Maschinen und die Menschen, die sie überwachen. Auch wenn ich selten selbst mit Hand anlege, kenne ich diese großen Maschinen recht gut. Die ersten englischen Tüllmaschinen, ein ängstlich gehütetes Geheimnis, schmuggelten Arbeiter kurz nach den napoleonischen Kriegen in Frankreich ein, um die Zollgebühren zu umgehen. Es war ein Seidenweber aus Lyon, Jacquard, der sie so veränderte, dass sich Spitzen auf ihnen herstellen ließen, indem er Lochkarten zur Festlegung der Webmuster einführte. Rollen an der Unterseite liefern dieKettfäden. Im Inneren der Maschine befinden sich fünftausend Bobinen, die Seele , auf einem Schlitten. Ein Catch-Bar (einige englische Ausdrücke behalten wir sogar im Französischen bei) greift diesen Schlitten, balanciert ihn aus und führt ihn mit einem lauten, hypnotisch wirkenden Schnalzen vor und zurück, vor und zurück. Die Fäden, seitlich geführt, werden nach einer komplizierten Choreografie, die auf fünf- bis sechshundert Jacquard-Karten niedergelegt ist, von Combs , kupfernen Schützenlagern in Bleifassungen, verflochten. Ein Schwanenhals hebt das Schützenlager wieder an. Schließlich kommt die Spitze spinnwebartig hervor, betörend unter ihrer Grafitschicht, und rollt sich langsam auf einem Rohr auf, das oben an der Leavers-Maschine angebracht

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