Die Wohlgesinnten
bisschen leiden kann. Seltsame Übung.
Dabei müsste ich das Leid doch eigentlich kennen. Keinem Europäer meiner Generation ist es erspart geblieben, ich darf jedoch ohne falsche Bescheidenheit von mir behaupten, dass ich mehr davon zu Gesicht bekommen habe als die meisten. Und außerdem vergessen die Menschen schnell, wie ich Tag für Tag feststellen kann. Sogar die, die dabei gewesen sind, erzählen fast nie anders davon als in abgegriffenen Gedanken und Wendungen. Man nehme nur die erbärmliche Prosa der deutschen Autoren, die den Krieg im Osten behandeln – die triefende Sentimentalität, die tote, grauenhafte Sprache. Die Prosa eines Herrn Paul Carell zum Beispiel, eines Autors, der es in den letzten Jahren zu einigem Erfolg gebracht hat. Zufällig habe ich diesen Herrn Carell in Ungarn kennengelernt, als er noch Paul Karl Schmidt hieß und unter der Schirmherrschaft seines Ministers von Ribbentrop schrieb, was er wirklich dachte, in einer kräftigen Prosa mit schönster Wirkung: Die Judenfrage ist keine Frage der Humanität, keine der Religion, sie ist einzig und allein eine der politischen Hygiene. Nun ist dem ehrenwerten Herrn Carell-Schmidt das bemerkenswerte Kunststück gelungen, zwei sterbenslangweilige Bände über den Krieg gegen die Sowjetunion zu veröffentlichen, ohne ein einziges Mal das Wort Jude zu erwähnen. Ich weiß es, denn ich habe sie gelesen: Es war mühsam, aber ich habe Ausdauer. Unsere französischen Autoren, die Mabires und Landemers, sind keinen Deut besser. So wenig wie die Kommunisten, nur dass deren Standpunkt entgegengesetzt ist. Wo sind sie hin, die gesungen haben: Brüder, ergreift die Gewehre, auf zur entscheidenden Schlacht? Sie schweigen oder sind tot. Man schwatzt, redet alles schön und verhaspelt sich im faden Brei aus Wörtern wie Ruhm, Ehre, Heldentum , das ist geisttötend, niemand hat etwas zu sagen. Vielleicht bin ich ungerecht, aber ich wage zu hoffen,dass ihr mich versteht. Das Fernsehen überschüttet uns mit Zahlen, mit eindrucksvollen Zahlen, die nicht mit den Nullen geizen. Aber wer von euch hält einmal inne, um sich diese Zahlen wirklich zu vergegenwärtigen? Wer von euch hat jemals versucht, alle Menschen, die er kennt oder in seinem Leben gekannt hat, zusammenzuzählen und diese lächerliche Zahl mit denen zu vergleichen, von denen er im Fernsehen hört, den berühmten sechs Millionen oder zwanzig Millionen ? Rechnen wir ein bisschen. Die Mathematik ist nützlich, eröffnet Perspektiven, lüftet den Kopf. Sie ist ein manchmal äußerst lehrreiches Unterfangen. Übt euch also ein bisschen in Geduld und schenkt mir eure Aufmerksamkeit. Ich werde nur die beiden Schauplätze berücksichtigen, auf denen ich eine Rolle gespielt habe, mag sie auch noch so unbedeutend gewesen sein: den Krieg gegen die Sowjetunion und das Vernichtungsprogramm, das in unseren Dokumenten offiziell als Endlösung der Judenfrage bezeichnet wurde, um diesen hübschen Euphemismus zu zitieren. An der Westfront sind die Verluste auf jeden Fall relativ gering geblieben. Meine Ausgangszahlen sind ein wenig willkürlich: Ich habe keine Wahl, die Quellen sind widersprüchlich. Bei den sowjetischen Gesamtverlusten halte ich mich an die übliche, 1956 von Chruschtschow genannte Zahl von zwanzig Millionen, wohl wissend, dass der namhafte englische Autor Reitlinger nur auf zwölf Millionen kommt und Erickson, ein schottischer Historiker, der genauso, wenn nicht noch renommierter ist, zu einer Zahl von mindestens sechsundzwanzig Millionen gelangt: Damit liegt die offizielle sowjetische Zahl, fast auf die Million genau, in der Mitte. Was die deutschen Verluste angeht – nur die in der UdSSR selbstverständlich –, können wir von der noch offizielleren und mit deutscher Gründlichkeit ermittelten Zahl von 6 172 373 Soldaten ausgehen, die zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. März 1945 im Osten als solche registriert wurden; sie wird in einem nach demKrieg aufgefundenen internen Bericht des OKH (Oberkommandos des Heeres) genannt, umfasst allerdings neben den Gefallenen (mehr als eine Million) auch die Verwundeten (fast vier Millionen) und Vermissten (das heißt Gefallenen, Kriegsgefangenen und in der Gefangenschaft Gestorbenen, rund 1 288 000). Sagen wir, um es kurz zu machen, zwei Millionen Tote, die Verwundeten interessieren uns hier nicht, darunter die gut fünfzigtausend zusätzlichen Toten, die in dem Zeitraum zwischen dem 1. April und dem 8. Mai 1945 umgekommen sind, vor allem in Berlin,
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