Die Wohlgesinnten
ist.
Bei der Arbeit in der Fabrik gilt strenge Geschlechtertrennung: Die Männer entwerfen die Motive, stanzen die Lochkarten, ziehen die Kettfäden auf, überwachen die Webmaschinen und den restlichen Maschinenpark; ihre Frauen und Töchter füllen noch heute die Bobinen, entfernen den Grafit, bessern die Spitzen aus, trennen und legen sie. Die Traditionen werden hochgehalten. Die Weber bilden hier eine Art proletarischer Aristokratie. Die Ausbildungszeit ist lang, die Arbeit schwierig; im vorigen Jahrhundert fuhren die Weber von Calais mit Kutsche und Zylinder zur Fabrik und duzten den Besitzer. Die Zeiten haben sich geändert. Der Krieg hat diesen Wirtschaftszweig zugrunde gerichtet, obwohl einige Webmaschinen für die Deutschen liefen. Alles musste wieder aus dem Nichts aufgebaut werden. Heute existieren in Nordfrankreich, wo vor dem Krieg viertausend Webmaschinen in Betrieb waren, nur noch etwa dreihundert. Und trotzdem haben sich die Weber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung früher als manche Bürger ein Auto geleistet. Allerdings duzen meine Arbeiter mich nicht. Ich glaube nicht, dass sie mich mögen. Was nicht schlimm ist, ichverlange es nicht von ihnen. Schließlich mag ich sie auch nicht. Man arbeitet zusammen, das ist alles. Wenn ein Mitarbeiter gewissenhaft und fleißig ist, wenn die Spitzen, die seinen Webstuhl verlassen, keinen Grund zur Beanstandung geben, gewähre ich ihm zum Jahresende eine Prämie. Wer zu spät oder betrunken zur Arbeit erscheint, bekommt Abzüge. Auf dieser Basis verstehen wir uns ausgezeichnet.
Ihr fragt euch vielleicht, wie ich in der Spitzen-Industrie gelandet bin. Eigentlich lag mir nichts ferner als die Wirtschaft. Ich habe Jura und Volkswirtschaft studiert und meinen Dr. jur. gemacht, den ich in Deutschland im Namen führen darf. Allerdings haben mich die Verhältnisse nach 1945 ein bisschen daran gehindert, auf meinen akademischen Grad zu pochen. Wenn ihr’s wirklich wissen wollt, lag mir auch nichts ferner als Jura: Als junger Mann hätte ich am liebsten Literatur und Philosophie studiert. Das wurde mir verwehrt – ein weiteres trauriges Kapitel meines Familienromans , vielleicht komme ich darauf noch zurück. Doch muss ich zugeben, dass Jura mir im Spitzen-Gewerbe bessere Dienste leistet als die Literatur. So ungefähr ist es gewesen. Als endlich alles zu Ende war, ist es mir gelungen, nach Frankreich zu kommen und mich als Franzose auszugeben; was nicht allzu schwer war, wenn man die chaotischen Verhältnisse damals bedenkt. Ich kam mit den Deportierten zurück, man stellte mir nicht viele Fragen. Gewiss, ich sprach ein tadelloses Französisch. Meine Mutter war Französin, und ich habe zehn Jahre meiner Kindheit in Frankreich verbracht, die gymnasiale Unterstufe, die Oberstufe, die Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles besucht und sogar zwei Jahre an der ELDS * studiert. Und da ich im Süden aufgewachsen bin,konnte ich mir sogar einen leichten südfranzösischen Akzent zulegen, jedenfalls achtete niemand auf mich, es herrschte ein heilloses Durcheinander, ich wurde an der Gare d’Orsay mit einer Suppe empfangen, und ein paar Beschimpfungen gab es auch, ich muss erwähnen, dass ich nicht versucht hatte, mich als Deportierter auszugeben, sondern als Zwangsarbeiter beim STO, und das schmeckte den Gaullisten nicht, also beschimpften sie mich ein bisschen, wie auch die anderen armen Teufel, dann haben sie uns wieder laufen lassen, wir kamen nicht ins Hotel Lutétia , aber in die Freiheit. Ich bin nicht in Paris geblieben, da kannte ich zu viele Leute, zu viele, die ich besser nicht gekannt hätte, ich bin in die Provinz gegangen, habe mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten, mal hier, mal dort. Dann hat sich die Aufregung gelegt. Rasch haben sie aufgehört, die Leute zu erschießen, bald sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, sie ins Gefängnis zu stecken. Da habe ich Nachforschungen angestellt und schließlich einen Mann gefunden, den ich kannte. Er hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen und eine Verwaltungsstelle nach der anderen unbeschadet überstanden; als vorausschauender Mann hatte er sich wohlweislich gehütet, die Dienste, die er uns erwiesen hatte, an die große Glocke zu hängen. Anfangs wollte er mich nicht empfangen, doch als er endlich begriff, wer ich war, sah er ein, dass er gar keine andere Wahl hatte. Ich kann nicht behaupten, dass es eine angenehme Unterhaltung war: Ein Gefühl der Befangenheit, des Zwanges war deutlich zu
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