Die Wohltäter: Roman (German Edition)
sie nicht gefüllt war. Nachts von Else ausgeschimpft zu werden, gehörte zu den größten Demütigungen. Sie hatte sich bereits einmal damit entschuldigt, dass es zu sehr geregnet habe, obwohl sie genau wusste, wie Else darauf reagieren würde. Denn es war stets eine Variation über dasselbe Thema.
»Und was willst du in Afrika machen? Dich dem Wetter anpassen oder den Bedürfnissen der armen und kranken Kinder? Ich schäme mich für dich. Wahrscheinlich eignest du dich einfach nicht zur solidarischen Arbeit. Morgen musst du dich entscheiden. Entweder du willst nach Afrika, oder du lässt es bleiben. Ich möchte ein Ergebnis sehen.«
Um sich selbst zu stärken, versuchte Tuva häufig, den Motivationsteil der Anweisung im Stillen durchzugehen. Das funktionierte jedes Mal. »Ich stehe hier, weil bald ein weiteres Kind sterben wird«, sagte sie sich vor.
Sie malte sich aus, sie wäre ein kleines Mädchen, nur wenige Jahre alt. Sie ist hungrig und krank und elternlos. Ihre Eltern sind an Aids gestorben. Sie hat kein sauberes Wasser und keine Toilette. Dieses Bild führte fast immer dazu, dass sie von Trauer und Wut erfüllt wurde.
»Wenn ich hier stehen bleibe, nur eine Stunde noch, können wir dort, wo sie lebt, vielleicht einen Brunnen ausheben«, war ihr nächster Gedanke. »Aber nicht, wenn ich aufgebe. Dann wird sie sterben.« Wenn ich aufgebe, gibt sie auf. Ich darf nicht aufgeben. Ich stehe hier, um ihr Leben zu retten. Dann atmete Tuva durch und spürte, wie ihre Kraft zurückkehrte. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt immer noch zweifelte, blinzelte sie kurz und phantasierte, wie das kleine Mädchen sie ansah. Es sagte nie etwas, sondern stand einfach nur da, völlig still, und sah Tuva an. Es hatte große Augen und einen kleinen, verschlossenen Mund.
Um das Unbehagen loszuwerden, das sie in diesem Moment verspürte, war sie meistens gezwungen, einige Meter zu gehen und die Büchse mit wiedererlangter Energie denen entgegenzustrecken, die auf sie zukamen.
Es hatte immer funktioniert, aber jetzt gelang es Tuva kaum mehr, die Assoziationskette durchzugehen. Sie musste ihre Augen aufsperren und den Kopf schütteln, um sich vorzuarbeiten, und obwohl sie die Geschichte auswendig kannte, blieb sie zwischendurch immer wieder hängen und kam nicht darauf, wie sie weiterging. Sie verfluchte sich selbst und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Es war, als hätte der nächtliche Kopfschmerz einen Teil ihres Gehirns mitgenommen, sodass es nicht mehr funktionierte.
In der Nacht, bevor sie aufgab, reichten die Schmerzen bis in den Kiefer hinab. Die Strahlen bohrten sich in ihre Backenzähne und führten dazu, dass sie zwischen paralysiertem Dämmerzustand und hämmerndem Angstschmerz hin und her gerissen wurde. In diesem Moment entschied sie, dass es vorbei sein sollte. Dass es nicht mehr weiterging. Dass sie eine Versagerin war.
Vier Stunden lang ging sie zu Fuß von dem Vorort, an dem sie abgesetzt worden war, zurück zu dem Hof, der nun vollkommen leer war, ohne die Schüler.
»Es ist gut, dass du hier bist«, begrüßte Leif sie, als er die Tür öffnete. Es war das erste Mal, dass er Schwedisch mit ihr sprach.
Tuva lächelte ihn schwach an. Er fand es gut, dass sie da war. Und sie fühlte sich so unglaublich verzweifelt. Weil sie nicht mehr gewollt hatte, weil sie gebrochen war und weil sie nun zu den Schwachen gehörte. Sie würde es ihm erklären, redete sie sich ein. Er würde es verstehen, wenn sie ihm erklärte, dass es nicht ihre Schuld war. Sie benötigte nur eine ihrer Spritzen, und schon würde sie wieder auf die Straßen hinausziehen. Wenn sie nur eine Spritze bekäme, würde sie weitere Nächte überstehen, würde sich besser zusammenreißen können.
»Sie haben aus Stockholm angerufen – es gibt Journalisten, die nicht aufhören, nach dir zu fragen. Sie fordern eine Art Erklärung darüber, wo du dich aufhältst.«
Langsam und unsicher schüttelte sie den Kopf, ohne einen klaren Gedanken formulieren zu können.
»Aber warum?«, fragte sie schließlich.
Leifs Gesicht war vollkommen ausdruckslos. »Ich dachte, du könntest mir das erklären. Zurzeit sind wir in Schweden einer Kampagne ausgesetzt, die uns und alles, wofür wir arbeiten, aufhalten will. Von allen, an die ich geglaubt habe, warst du diejenige, die mir am nächsten stand. Und jetzt bist ausgerechnet du es, die uns verrät.«
Tuva hörte nicht auf, langsam den Kopf zu schütteln. Vor Kälte, Müdigkeit und Erschöpfung. Und weil sie
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