Die Wohltäter: Roman (German Edition)
mehr als ein paar Stunden. Kleidung zum Wechseln hatten sie nicht bei sich.
Es war ein Wettbewerb, und sie wollte ihn gewinnen. Doch in der Nacht, als sie und Marius in einer Kirche übernachteten, nachdem Elsa gekommen war, um das Geld abzuholen, hatte Horton zugeschlagen. Sie hatte stundenlang gekämpft, um nicht wie am Spieß zu schreien. Zwar hatte sie ihr Kortisonspray bei sich, aber bis dessen Wirkung einsetzte, dauerte es. Sie wünschte, sie hätte wenigstens ihre Spritzen mitgenommen. Schon seit mehreren Jahren hatte sie keinen Anfall mehr gehabt, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet jetzt kommen würde. Also musste sie sich mit dem Nasenspray begnügen, und sog so viel auf einmal davon ein, wie sie konnte. Trotzdem dauerte es mehrere Stunden, bis es vorbei war. Die Ärzte hatten gesagt, es sei eine ungefährliche Krankheit, etwas, mit dem sie eben lernen müsse zu leben. Trotzdem hatte sie mehrfach ihren eigenen Tod herbeigewünscht, als sie in Embryonalstellung auf dem kalten Kirchenfußboden lag.
Marius hatte versucht, sie zu überreden, einen Arzt aufzusuchen, oder wenigstens in eine der kostenlosen Kliniken zu gehen, um sich stärkere Medizin oder Sauerstoff verschreiben zu lassen, der mitunter auch half, wenn es am schlimmsten war. Aber es überkam sie immer nachts, und sie konnte es sich nicht leisten, am Tage noch mehr Stunden zu verlieren, in denen sie eigentlich unterwegs sein und Geld einsammeln sollte. Marius fand, es sei Wahnsinn, dass sie sich selbst so sehr unter Druck setzte, aber sie antwortete ihm immer, dass sie die Krankheit kannte, weil sie sie früher schon gehabt hatte. Dass sie ungefährlich sei.
Außerdem wusste sie auch, dass er sie eigentlich gern übertrumpfen wollte, auch wenn sie befreundet waren. Das durchschaute sie durchaus. Und solange es sie nicht tagsüber einholte, musste sie sich eben durch die strafenden Stunden im Dunkeln quälen.
Am fünften Tag ohne Schlaf und mit wenig Essen spürte Tuva, dass es immer schwieriger wurde, mit den potenziellen Spendern Augenkontakt aufzunehmen. Das war schlimm, denn Blickkontakt gehörte zu den Grundregeln der Anweisung, die sie alle in- und auswendig kannten. Allen potenziellen Spendern auf der Straße musste mit Enthusiasmus, Energie und Selbstbewusstsein begegnet werden. Die Kursteilnehmer hatten an Rollenspielen teilgenommen, bei denen Leif sie dazu zwang, ihr Verhalten auswendig zu lernen. Ein Lachen, ein Augenkontakt, langsames und deutliches Sprechen. Die meisten gingen trotzdem einfach vorüber, ohne ein Wort.
Diejenigen, die stehen blieben, hatten drei prinzipielle Einwände.
»Ich habe kein Geld.«
»Ich bin nicht interessiert.«
»Ich habe keine Zeit.«
Aber allein, dass sie überhaupt etwas sagten, war bereits ein Sieg, hatte Tuva gelernt. Denn dann gab es immer eine Möglichkeit zu einer Antwort, die es mit offenem, freundlichem Gesicht zu formulieren galt:
»Ah, kein Problem. Das verstehe ich.« Lächeln und Pause.
»Aber darf ich trotzdem um eine kleine Spende bitten? Vielleicht nur ein paar Münzen? Haben Sie eventuell ein wenig Kleingeld, das Sie loswerden wollen?« Dann erneut ein einfühlsames Lächeln. »Auch ein ganz kleiner Beitrag kann für den Empfänger schon einen großen Unterschied ausmachen.«
Dann griffen diejenigen, die stehen geblieben waren, mitunter in ihre Taschen und schoben einige Münzen in die Büchse, auch wenn sie keine Postkarten mit dem Logo von HHH oder einem anderen Motiv kauften.
Es gab einen vierten Einwand, den Tuva am liebsten mochte.
»Ich spende schon etwas. Aber an eine andere Organisation.«
Bei diesen Worten entfuhr Tuva ein begeistertes » Oooooh «, und sie strahlte ihr Gegenüber an. Dann fügte sie hinzu: »Das ist ja phantastisch! Da Sie bereits zu den großzügigeren Menschen gehören, wollen Sie uns vielleicht auch ein wenig Kleingeld abgeben?«
Und weil sich jemand, der sich selbst als großzügig darstellte, ungern als Geizhals zeigte, kamen dann häufig einige Münzen zum Vorschein.
Jetzt allerdings, am fünften Tag, und nachdem sie überhaupt nicht geschlafen hatte, fiel es Tuva immer schwerer, ein Lächeln hervorzupressen und etwas wie echten Enthusiasmus an den Tag zu legen. Stattdessen hatte sie das Gefühl, im Nebel umherzutappen. Sie verlor ihr Zeitgefühl und wusste selten, wie viele Stunden noch vom Tag übrig blieben. Sie achtete nur noch auf die Füllhöhe ihrer Büchse und wusste, dass sie nirgendwohin gehen konnte, bevor
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