Die Wohltaeter
aufgeteilten Sechzehnstundentagen furchtbar müde.
Eines Abends, bevor sie in ihre Betten kriechen konnten, stellte Chloé sich vor sie und verlangte, über das zu sprechen, was sie als »die destruktive Punktejagd« bezeichnete. Erst hatten sie einander kennengelernt und gemeinsam gearbeitet, jetzt wurden sie gegeneinander aufgehetzt. Mit diesem Plan stimmte etwas nicht. Sie forderte die anderen dazu auf, den Ausbildern ihre Meinung mitzuteilen und sie dazu zu bringen, das System zu ändern. Einige schlossen sich ihrer Meinung an. Tuva sagte nichts. Natürlich war es am Anfang angenehmer gewesen, aber sie wollte ihren eigenen Platz nicht riskieren. Als man sie direkt fragte, wich sie aus und sagte, für sie spiele es keine Rolle – falls die anderen es mit denAusbildern diskutieren wollten, würde sie sich ihnen jedoch nicht in den Weg stellen.
Daraufhin lag Tuva die ganze Nacht wach, und am Morgen des nächsten Tages entschuldigte sie sich beim Frühstücksdienst und suchte Leif auf, bevor er den Speisesaal erreicht hatte. Es stehe eine kleine Revolte bevor, der sie zuvorkommen wolle. Er hörte ihr aufmerksam zu, und zum ersten Mal überhaupt schenkte er ihr ein Lächeln.
»Es ist gut so. Du musst verstehen, dass Zweifel eine produktive Empfindung sind. Jetzt hast du deinen ersten, ernstzunehmenden Zweifel überwunden und eine Wahl getroffen. Von hier aus kannst du weitergehen.« Vorsichtig berührte er ihren Arm. »Ich bin stolz auf dich, und du darfst es auch sein.«
Er schob sie vor sich in den Speisesaal und wartete eine halbe Minute, bevor er selbst eintrat. Die Schüler hatten sich gerade hingesetzt, als Leif seine Stimme hob und anfing zu sprechen, woraufhin alle gleichzeitig verstummten.
»Ihr seid hier, weil ihr einen gemeinsamen Traum habt. Weil ihr wisst, dass etwas auf der Welt nicht stimmt und wir alle etwas tun müssen, um das zu ändern. Aber ihr müsst mir vertrauen!«
Er hatte sich vor ihren Tisch gestellt und betrachtete sie, einen nach dem anderen. Sie saßen, er stand. Sein Gesicht wurde von Schatten verdunkelt, als er seinen Kopf zu ihnen hinabbeugte.
»Wir wissen, was wir tun, und das seit vielen Jahren. Wir wissen, was die Voraussetzung dafür ist, an den widrigsten Plätzen der Welt bestehen zu können. Ihr stammt alle aus bequemen Verhältnissen und habt euch nie Gedanken darüber machen müssen, ob am Ende des Tages noch etwas zu essen da ist. Meine Aufgabe besteht darin, sicherzustellen, dass ihr es aushaltet, mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Ich habe vor, diese Aufgabe ernst zu nehmen.«
Er machte eine Pause.
»Wer an mir zweifelt, hat das Recht, diesen Ort zu verlassen. Noch heute.« Er hob seine Hand. »Ihr habt nicht nur das Recht, zu gehen. Ich verlange sogar von euch , dass ihr verschwindet, wenn ihr mir nicht folgt. Wer bleibt, wird verstehen und akzeptieren,dass alles, dem ihr hier ausgesetzt seid, notwendig ist, um dem Druck in einem armen Land standzuhalten.«
Dann drehte er sich um und ging wieder. Else stand sofort auf und verlangte ein Frühstückstablett für ihn. Dann eilte sie ihm mit dem Tablett hinterher. Den Tag über bekam niemand ihn zu Gesicht, und sie wagten es noch nicht einmal mehr untereinander, das Punktesystem anzusprechen. Alle wollten bleiben.
Tuva wusste, dass sie das Richtige getan hatte. In der Gruppe gab es keinen Platz für Zweifler. Und vor allem keine Zeit, weil es so viel zu tun gab. Außerdem durfte sie übers Wochenende nach Hause fahren, das hatte Leif versprochen. Sie musste mehr Geld für den Fortsetzungskurs beschaffen. Ihr Vater hatte sehr glücklich geklungen, als sie anrief. Natürlich wollte er kommen und sie am Flughafen in Arlanda abholen.
20
Zwischen graugelbem Schnee und weißgrauem Himmel zeichneten sich die Silhouetten der schwarz gekleideten Menschen ab, die gekommen waren, um gemeinsam mit der Familie Abdalakthobo zu trauern. Weinen und Klagelaute stiegen zwischen den Ästen der Bäume auf dem Friedhof von Södertälje empor, wo die Beerdigung von Yamos Vater stattfand. Es sollte den ganzen Tag über nicht richtig hell werden.
Ninos und Manuel trafen etwas verspätet ein und stritten sich auf dem gesamten Weg vom Parkplatz zum Friedhof auf Assyrisch darüber, wessen Schuld das war.
»Hör auf dich zu beschweren«, fuhr Manuel ihn an. »Ich saß gerade an einer Haarverlängerung für eine Hochzeit – hätte die Braut etwa ohne Haare heiraten sollen oder was?«, zischte Manuel. Er
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