Die Wuensche meiner Schwestern
wollte oder nicht. Sie zappelte herum und schnaubte, rollte die Zehen ein und knirschte mit den Zähnen. Und immer, wenn sie sich endlich, endlich auf das Stricken einlassen konnte – dessen Rhythmus sich für sie manchmal anfühlte, als würde sie von Wellen im Meer emporgehoben und dann sanft wieder zurück auf die Füße gestellt –, war die Sitzung zu Ende. Je älter sie wurde, desto besser begriff sie, dass in der einfachen Bewegung ihrer Finger und dem Beruhigen ihrer Gedanken pure Schönheit liegen konnte. Doch ihr gelang es höchstens kurz, die Tür zu diesem friedlichen Ort zu öffnen, bevor sie sich wieder vor ihr schloss.
An manchen Tagen nahm sie es Aubrey übel, dass diese so scheinbar mühelos und so schnell strickte. Wenn sie mit den Nadeln aus Palisanderholz die weiche graue Wolle bearbeitete und ihre Augen unter den halbgeschlossenen Lidern so blau wie die Chagall-Fenster der Union Church im Dunkeln leuchteten, sah Aubrey richtig hübsch aus, fast wie eine Nonne. Meggie konnte derweil ihr Hirn nicht zur Ruhe bringen, das mit ganz anderen Dingen vollgestopft war: dass ihre Tante sie von der Schule genommen hatte, dass normale Kinder in ihrem Alter Theaterstücke nicht im Wohnzimmer, sondern in einer richtigen Aula aufführten, dass normale Kinder Fußball- oder Ballett- oder auch Mathewettbewerbspokale bekamen und dass Meggie nichts hatte außer dem Stricken, dem endlosen Stricken, reihenweise Maschen über Maschen.
Je älter Meggie wurde, desto rastloser wurde sie. Als sie zwölf Jahre alt war, rannte Bitty, die etwa achtzehn Monate zuvor ihren Highschool-Abschluss gemacht hatte, mit dem Mann davon, den sie später heiraten sollte. Die Strickabende gingen weiter wie immer, nur ohne Bitty. Es überraschte Meggie nicht, dass ihre Schwester sich aus dem Staub gemacht hatte: Bitty hatte die Strickstunde in ihren späten Teenagerjahren immer wieder geschwänzt, hatte die Strickerei bereits von sich abgeschüttelt, wie sich Meggie soeben noch ihrer letzten Milchzähne entledigte. Daher war Meggie auf ihr Verschwinden vorbereitet, als es sich schließlich komplett vollzog. Und wie ihr war es auch Meggie bestimmt, die Strickerei zu verlassen. Doch sie würde nicht in die Fußstapfen ihrer ältesten Schwester treten: Sie würde sich ihren Weg ganz allein suchen. Aubrey und Mariah waren die Einzigen, die bleiben würden. Eines Tages, als Meggie fast achtzehn war, fand Mariah den alten roten Rucksack, den Meggie für den Notfall in ihrem Wandschrank versteckt hatte – vollgepackt mit allen Dingen, die sie zum Weglaufen benötigte.
»Du magst weggehen«, hatte Mariah gesagt, »doch du wirst niemals wirklich fort sein. Die Strickerei wird dich zurückrufen, und wenn sie es tut, dann musst du alles stehen und liegen lassen, was du auch gerade tust, und nach Hause kommen.«
Erst als Meggie zweiundzwanzig war und vier Jahre fern der stickigen Enge der Strickerei verbracht hatte, stellte sie fest, dass Mariahs Warnung nicht rein metaphorisch gemeint gewesen war. Sie und ihr aktueller Freund lagen gerade im Bett, angenehm erschöpft und klebrig vor Schweiß. Sie waren erst zehn Minuten zuvor in seiner Wohnung in Savannah angekommen. Meggies Shirt war auf Phils Gitarrenkoffer gelandet. Phils Boxershorts baumelten von einem riesigen schwarzen Verstärker.
Meggie hob einen Faden auf, der sich vom ausgefranstenschwarzen Saum ihres T-Shirts gelöst hatte, und zeichnete mit dem losen Ende die Tattoos auf Phils Brust nach – einen Drachen, ein Notenzeichen, eine kleine schwarze Fledermaus. Die ganze letzte Woche hatte er davon gesprochen, sich ihren Namen über sein Herz stechen zu lassen, doch sie hatte ihn gewarnt: »Tu’s nicht.«
»Was willst du zu Abend essen?«, fragte er sie.
»Ich weiß nicht.«
»Chinesisch? Italienisch?«
»Keine Ahnung«, meinte sie. »Ich habe keinen großen Hunger.« Unterhaltungen übers Essen, vor allem wenn sie sich in die Länge zogen, waren ein schlechtes Omen. Das aufregende Rauschgefühl, als hätte sie zu lange die Luft angehalten, das sie nach der Begegnung mit Phil empfunden hatte, verblasste bereits. Sie kannte sich. Wenn sie erst einmal wieder den Boden unter ihren Füßen spürte, lief sie normalerweise sofort los.
Sie seufzte und ließ den Faden um seine kleine rosa Brustwarze herumgleiten. Sie pickte noch ein paar weitere Fäden auf und sagte sich: Wird Zeit, das Shirt wegzuwerfen. Sie hielt die Fäden über seine Brust und ließ sie dann nacheinander fallen.
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