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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
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Langsam entrollten sie sich auf Phils Brustbein und formten Schlaufen und Girlanden.
    Sie stützte sich auf dem Ellbogen auf.
    »Was ist los?«, wollte er wissen.
    Sie ergriff alle Fäden auf einmal, hob die geballte Faust und ließ sie erneut fallen. Wieder rieselten die Fäden langsam hinunter und bildeten äußerst unwahrscheinliche Schnörkel. Ihr Kopf fühlte sich schwer und zugleich ganz leicht an.
    »Was machst du?«, fragte er.
    »Siehst du denn nicht?«
    Er zog den Kopf ein und vergrub sein Kinn in der Brust, um mürrisch auf die Fäden zu blicken, die sich auf sein Brustbein gelegt hatten. »Was denn?«
    »Nichts«, antwortete sie.
    Um Mitternacht saß sie bereits im Bus nach Norden, ließ das sanfte Tiefland Georgias wie einen Traum hinter sich zurück und hatte das Bild der Palisades am Ufer des Hudson – hundertfünfzig Meter zerklüftetes Triasgestein – wie eine Festungsmauer vor Augen. Der Mann auf dem Sitz neben ihr schnarchte und sabberte auf seinen Anzug.
    »Hat es dich als Kind nicht wahnsinnig gemacht, mit all diesen Geschichten über den Kopflosen Reiter aufzuwachsen?«, wollten die Leute manchmal von ihr wissen, wenn sie hörten, dass sie aus Tarrytown war. »Hattest du Angst?«
    Meggie lehnte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe des Busses.
    »Ob ich Angst hatte?«, erwiderte sie dann stets. »Die habe ich bis heute.«
    Die Nachricht in den Fäden war leicht zu verstehen gewesen:
    Geh
    Aus dem Großen Buch im Flur
    Natürlich ist da immer die Frage – die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Realen und dem Wahren. Eine Sache kann wahr sein, ohne real zu sein. Vielleicht kannst du das nicht richtig begreifen, doch sorge dich nicht. Dies ist die Natur des Glaubens, der Magie, der Kunst und eines guten Lebenswerks: Wenn du jemals vollständig verstehst, was du gerade tust, dann solltest du auf der Stelle damit aufhören.

Kapitel 4
    Verbinde Kontrastfarben
    Nessas Daumen bewegte sich mit rasender Geschwindigkeit: Bitte, sag der Polizei, ich wurde von einer Frau, die wie meine Mom aussieht, entführt und ins 18. Jh. zurückverfrachtet.
    Die Antwort ihres Freundes Jayden Miller erschien prompt: Haha.
    Echt jetzt, schrieb sie zurück. Bitte, rette mich!
    Sie behielt ihr Handy im Auge, um zu sehen, ob er ihr noch eine SMS schicken würde. Sie wartete. Als er es nicht tat, seufzte sie und klappte das Telefon zu.
    Auf dem zweiten Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes lag ihr Bruder – von ihr bisweilen »Luder« genannt, weil er ihr so fürchterlich auf die Nerven ging – auf dem Bauch ausgestreckt. Carson konnte sich mit seinen Comics trösten, doch sie hatte gar nichts. Nichts außer der bodenlosen, schmerzhaften Einsamkeit, die niemals verschwand.
    »Komm schon.« Sie warf ein Kissen nach ihm, verfehlte ihn jedoch meilenweit. »Steh auf.«
    »Nein.«
    »Ich sagte, steh auf.«
    »Wieso sollte ich?«
    » Hallo? Weil wir uns auf den Weg machen.«
    »Wohin denn?«, fragte er.
    »Weiß nicht. Auf Erkundungstour.«
    Carson sah sie an. Sein Gesicht war so rund wie ein Kürbis, und sein glattes blondes Haar reichte ihm bis zum Kinn. Statt in White Plains, New York, hätte er in irgendeinem kalifornischen Strandort geboren werden sollen. »Mom sagt, wir dürfen nicht allein rausgehen, weil es da Drogendealer gibt.«
    »Keine Erkundungstour draußen. Hier drinnen.«
    Carson zögerte einen Moment – zweifellos überlegte er, ob eine Tour durch das Haus verlockender schien als der Ruf seines Comics mit dem breitschultrigen Helden, der gleich von seinem Erzfeind auf der Suche nach Informationen gefoltert werden würde. Doch letztendlich tat er, was er immer tat, wenn Nessa etwas von ihm wollte. Er stand auf.
    Sie gingen los. Der Flur im ersten Stockwerk war lang und gerade wie ein hohler Knochen. Am anderen Ende ließ ein Fenster ein wehmütiges bläuliches Licht herein. Carson klopfte mit den Knöcheln an die Wand.
    »Schhhh«, machte Nessa.
    Er zog eine Grimasse, ließ jedoch die Hand sinken.
    Es war natürlich nur ein Spiel, die Vorstellung, dass sie sich in das alte Haus vorwagten – als könnten sie auf einen Raum voll gesponnenen Goldes oder eine verzauberte Rose oder gar einen Durchgang in die Vergangenheit stoßen. Sie öffneten nacheinander die vielen Schlafzimmertüren, die entlang dem langen Flur lagen und stellten fest, dass die Räume dahinter alle nahezu gleich aussahen. Eine Kommode, ein Wandschrank, ein Bett. Spitzengardinen. Manchmal gab es noch einen Schreibtisch. Keine

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