Die Wuensche meiner Schwestern
»Nein, das kann ich nicht.«
Aubrey zog ihren Arm zurück, da er langsam müde wurde, hielt die Hand jedoch weiterhin geöffnet. »Wir möchten auch das Geld so bald wie möglich zurückgeben. Aber es kann noch eine Weile dauern, bis wir dazu in der Lage sein werden.«
Ruth blickte mit einer Mischung aus Kummer und Sehnsucht auf die Brosche. »Ich fürchte, dass das jetztnicht wichtig ist.« Sie stand auf und lief um ihren Sessel herum. Sie kehrte ihnen nun den Rücken zu, und ihre sonst so kantigen Schultern krümmten sich in einem staubigen Sonnenstrahl.
»Ich habe eine Bestimmung in mein Testament eingefügt«, erläuterte Ruth. »Ich besitze ein Gebäude am Broadway. Darin befindet sich eine Tabakhandlung, deren Besitzer ich noch nie leiden konnte. Jedenfalls darf man dort offiziell ein Geschäft führen. Wenn ich sterbe, geht das Haus an Sie, und Sie können damit tun, was Sie wollen. Ich hoffe jedoch, dass Sie und Ihre Familie darin die Strickerei wieder aufmachen.«
Aubrey brauchte eine Weile, um zu verarbeiten, was Ruth gerade gesagt hatte.
»Haben Sie mich verstanden, oder haben Sie Wolle in den Ohren?«
»Ich habe Sie verstanden«, erwiderte Aubrey vorsichtig. »Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.«
» Danke wäre die übliche, allgemein akzeptierte Antwort auf ein Geschenk in dieser Größenordnung.« Ruth schüttelte den Kopf. »Ihr Van Rippers habt die Manieren von Gnus.«
»Das müssen Sie gerade sagen«, mischte Nessa sich ein.
Aubrey machte ihr ein Zeichen, still zu sein, und wandte sich an Ruth: »Wo liegt der Haken?«
»Haken?«
»Was muss ich Ihnen im Austausch für Ihr Haus versprechen?«
Ruth drehte sich zu ihr um und blickte sie mürrisch an. »Sie tun, was Sie schon immer für Tarrytown getan haben. Sie stricken Zauber.«
Aubrey rührte sich nicht, doch ihr Herz klopfte wild. Im Laufe der letzten Monate hatte ihr die Vorstellung immer besser gefallen, bis sie regelrecht dankbar war, dass ihre Zukunft nicht länger an die Strickerei gekettet war,dass sie frei entscheiden durfte, wie sie leben wollte, und mit der Zeit vielleicht sogar ein normales oder zumindest halbwegs normales Mitglied der Gemeinde werden konnte. Doch hier war nun Ruth und machte ihr dieses unglaubliche und unerwartete Angebot, und Aubrey hatte das Gefühl, dass die Strickerei sie erneut zu sich rief, sie zurück in ihren Bannkreis zog.
Ruth schien ihr Unbehagen zu spüren. »Was ist? Was haben Sie?«
Aubrey antwortete nicht; sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
»Sie können es mir ruhig sagen«, bohrte Ruth nach.
Aubrey holte Luft. »Die Magie … sie hat in der Devil’s Night versagt. Wie soll die Strickerei irgendjemanden retten, wenn sie noch nicht einmal sich selbst retten kann?«
»So denken Sie?« Ruth lachte. »Das glauben Sie doch nur, weil Sie nicht wussten, dass ich Ihnen eine neue Strickerei anbieten würde. Aber hier bin ich, liege im Sterben und gebe Ihnen sozusagen mit meinem letzten Atemzug die Chance, noch einmal neu anzufangen – für mich erscheint es also so, als ob die Strickerei sich am Ende doch durchgesetzt hat.«
Aubrey rieb sich verwundert die Augen. Sie blickte auf die großen Verandatüren, die auf eine Steinterrasse hinter Ruths Haus führten. »Entschuldigung. Ich … ich brauche nur kurz ein bisschen frische Luft.«
Der Nachmittag draußen roch nach Frühling, frisch und duftend nach süßer Erde und Blumen. Aubrey lehnte sich mit der Hüfte gegen das schwarze Eisengeländer und blickte auf den Fluss hinaus. Er wirkte ruhig und stabil. Sie dagegen wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Die Strickerei war zurück. Das Leben war so ungerecht. Nun, da sie endlich auf festen Beinen stand – sie wusste, wer sie war, nämlich mehr als nur eine Hüterin, und was sie vom Leben wollte, nämlich es mit ihren Schwestern,ihrer zukünftigen Familie und Vic zu verbringen –, sollte sie auf einmal wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Van Rippers weniger mit einer Gabe gesegnet als mit einem Fluch belegt waren.
Sie umschlang das kalte, schwarze Geländer mit den Fingern, und ihre Knöchel traten weiß hervor.
Nein. Sie würde die Strickerei nicht wiederbeleben. Das erschien ihr so sicher wie ihr nächster Atemzug. Die alten Zeiten waren vorbei.
»Es tut mir leid«, sagte sie zu Ruth, als sie wieder ins Wohnzimmer trat. »Ich kann es nicht tun.«
»Warum in aller Welt können Sie das nicht?«, fragte Ruth. »Glauben
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