Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
bedeckte. Die beiden alten und abgestumpften Gefangenen ließen sich von dem Geräusch nicht stören, aber Gorgo erwachte. „Wer da?“ rief er. „Wer bewegt sich da oben auf dem Dache?“
„Ich bin's, Gorgo, der Däumling,“ antwortete der Junge. „Ich versuche hier den Draht durchzufeilen, damit du entfliehen kannst.“
Der Adler hob den Kopf und sah in der hellen Nacht, wie der Junge eifrig an dem Drahtnetz, das über den Käfig gespannt war, feilte. Einen Augenblick regte sich die Hoffnung in seinem Herzen, aber die Mutlosigkeit gewann doch gleich wieder die Oberhand. „Ach, Däumling, ich bin ein sehr großer Vogel,“ sagte er. „So viele Drähte, daß ich hinauskommen kann, wirst du kaum durchfeilen können. Gib dein Vorhaben lieber gleich auf und laß mich in Frieden.“
„Schlaf du nur und kümmere dich nicht um mich,“ erwiderte der Junge. „Heute nacht werde ich freilich noch nicht fertig und morgen nacht auch nicht; aber ich will nun einmal versuchen, dich zu befreien, denn hier gehst du ja vollständig zugrunde.“
Gorgo schlief wieder ein; als er aber am nächsten Morgen erwachte, sah er gleich, daß schon eine große Menge Drähte durchgefeilt waren. An diesem Tag fühlte er sich nicht so schläfrig wie am vorhergehenden; er schlug oft mit den Flügeln und hüpfte auf den Ästen umher, um seine steifen Glieder wieder geschmeidig zu machen.
Eines Morgens in aller Frühe, gerade als der erste Streifen Morgenlicht am Himmel aufleuchtete, weckte der Däumling den Adler. „Versuch es jetzt, Gorgo!“ sagte er.
Der Adler schaute auf. Der Junge hatte wirklich die vielen Drähte durchgefeilt; da droben in dem Stahldrahtnetz war ein großes Loch. Gorgo bewegte die Flügel und schwang sich hinauf. Zweimal fiel er wieder in den Käfig zurück, aber schließlich gelangte er doch glücklich ins Freie.
Mit stolzen Flügelschlägen stieg er hoch zu den Wolken empor. Der kleine Däumling stand unten und sah ihm mit einem wehmütigen Ausdruck nach. Ach wie sehr wünschte er, es käme jemand und gäbe auch ihm die Freiheit!
Der Junge war jetzt ganz heimisch auf Skansen. Er hatte mit allen Tieren Bekanntschaft geschlossen und viele Freunde unter ihnen gewonnen; er sah ja auch wohl ein, daß in diesem Freiluftmuseum außerordentlich viel Interessantes und Lehrreiches zu sehen war, und es wurde ihm nicht schwer, sich die Zeit zu vertreiben; aber doch zogen seine Gedanken jeden Tag sehnsüchtig hinaus zu seinem lieben Gänserich Martin und allen seinen andern Reisegefährten.
„Wenn ich doch nur nicht durch mein Versprechen gebunden wäre! Dann wollte ich schon einen Vogel finden, der mich zu den Wildgänsen trüge,“ dachte er.
Es klingt recht merkwürdig, daß Klement Larsson dem Jungen seine Freiheit nicht wiedergegeben hatte, aber man muß bedenken, wie verwirrt der kleine Spielmann war, als er Skansen verließ. An dem Morgen, wo er abreiste, hatte er sich allerdings vorgenommen gehabt, dem kleinen Knirps sein Essen in einem blauen Napf hinzustellen, aber zum Unglück hatte er keinen solchen finden können. Dann waren alle die Leute von Skansen – die Lappen, die Mädchen aus Dalarna, die Maurer und Gärtner – herbeigekommen, ihm Lebewohl zu sagen, und so hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich einen blauen Napf zu verschaffen. Die Stunde der Abreise kam heran, und schließlich wußte er sich nicht anders zu helfen, als einen der Lappländer um Hilfe zu bitten.
„Hör einmal,“ sagte er. „Hier auf Skansen wohnt einer von dem Wichtelvolk, dem ich jeden Morgen etwas zu essen bringe. Willst du mir nun einen Gefallen tun? Hier ist etwas Geld, dafür kaufe einen blauen Napf und stelle ihn morgen mit etwas Grütze und Milch auf die Treppe der Bollnäshütte.“
Der alte Lappe machte ein sehr verwundertes Gesicht; aber Klement hatte keine Zeit mehr, ihm die Sache noch näher zu erklären, denn er mußte jetzt auf den Bahnhof.
Der Lappe war dann auch wirklich in die Stadt gegangen, einen blauen Napf zu kaufen; als er aber keinen blauen sah, der ihm für seinen Zweck passend erschien, kaufte er einen weißen, und in diesem stellte er gewissenhaft jeden Morgen Milch und Grütze hin.
Auf diese Weise war der Junge seines Versprechens nicht entbunden worden. Er wußte wohl, daß Klement fort war, aber er selbst durfte nicht davongehen.
In dieser Nacht nun sehnte sich der Junge mehr als gewöhnlich nach der Freiheit, und das kam daher, daß es jetzt im Ernst Frühling und Sommer geworden war. Er
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