Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Titel: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selma Lagerloef
Vom Netzwerk:
Sturm von Spottreden und Schmähungen. Der Adler hörte es, und nun wendete er sich mit zornigen Blicken an Akka, wie wenn er sie anfallen wollte. Aber er änderte seine Absicht sogleich wieder, stieg mit heftigen Flügelschlägen hoch in die Luft hinauf, so hoch, bis ihn kein Ruf mehr erreichen konnte, und schwebte da droben umher, solange die Wildgänse ihn noch sehen konnten.
    Drei Tage später erschien er wieder bei den Wildgänsen.
    „Jetzt weiß ich, wer ich bin,“ sagte er zu Akka. „Und da ich ein Adler bin, muß ich so leben, wie es einem Adler geziemt. Aber deshalb können wir doch gute Freunde bleiben; dich oder eine der Deinigen werde ich nie angreifen.“
    Aber Akka hatte ihren ganzen Stolz darein gesetzt, diesen Adler zu einem ungefährlichen Vogel heranzuziehen, und sie wollte es nicht leiden, daß er nach seiner Art leben wollte.
    „Meinst du, ich werde mit einem Vogelräuber Freundschaft halten?“ sagte sie. „Lebe so, wie ich es dich gelehrt habe, dann darfst du wie bisher in meiner Schar bleiben.“
    Beide waren stolz und unbeugsam; keines wollte nachgeben, und schließlich verbot Akka dem Adler geradezu, sich in ihrer Nähe sehen zu lassen, ja, sie war so böse auf ihn, daß in Akkas Nähe niemand seinen Namen auch nur auszusprechen wagte.
    Von dieser Stunde an zog Gorgo im Lande umher, einsam und von allen gemieden, wie alle großen Räuber. Er war oftmals in trüber Stimmung, und sicherlich sehnte er sich oft nach der Zeit zurück, wo er sich noch für eine Wildgans gehalten und mit den lustigen jungen Gösselchen gespielt hatte. Unter den Tieren war er wegen seiner Kühnheit berühmt. Es hieß, er fürchte sich vor nichts und vor niemand als vor seiner Pflegemutter Akka, und er stand auch in dem Rufe, sich noch nie an einer Wildgans vergriffen zu haben.

Gefangen
    Gorgo war erst drei Jahre alt und hatte noch nicht daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen und eine Heimat zu gründen, als er eines Tages von einem Jäger gefangen wurde, der ihn an das Freiluftmuseum Skansen in Stockholm verkaufte. Als Gorgo nach Skansen kam, waren schon zwei Adler da. Sie wurden in einem Käfig aus eisernen Stangen und Stahldraht gefangen gehalten; der Käfig stand im Freien und war sehr groß, und damit die Adler sich heimisch fühlen sollten, hatte man sogar einige Bäume hinein verpflanzt und einen ordentlichen Berg aus Steinblöcken darin aufgeführt. Aber trotz allem gediehen die Vögel nicht; fast den ganzen Tag saßen sie unbeweglich auf demselben Platz, ihr schönes dunkles Gefieder wurde struppig und verlor seinen Glanz und, hoffnungslose Sehnsucht im Blick, starrten die armen Tiere gerade in die Luft hinaus.

    In der ersten Woche seiner Gefangenschaft war Gorgo noch wach und lebendig; aber dann überfiel ihn allmählich eine dumpfe Gleichgültigkeit. Er saß ganz ruhig auf demselben Platz, starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen, und die Tage vergingen, ohne daß er es merkte.
    Eines Morgens, als Gorgo wie gewöhnlich im Halbschlaf befangen war, hörte er, daß ihn jemand vom Boden aus anrief.
    „Wer ruft mich?“ fragte er.
    „Aber Gorgo, erkennst du mich denn nicht mehr? Ich bin der Däumling, der mit den Wildgänsen umherzog.“
    „Ist Akka auch gefangen worden?“ fragte Gorgo, in einem Ton, wie wenn er aus einem tiefen Schlafe erwachte und seine Gedanken erst zusammennehmen müßte.

    „Nein, Akka und der weiße Gänserich und die ganze Schar der Wildgänse sind wahrscheinlich jetzt droben in Lappland,“ sagte der Junge. „Nur ich bin hier gefangen.“
    Während der Junge dies sagte, sah er, daß Gorgo die Augen abwendete und wie vorher in die Luft hinausstarrte.
    „Königsadler!“ rief der Junge. „Ich habe nicht vergessen, daß du mich einmal zu den Wildgänsen zurückgebracht und auch das Leben des weißen Gänserichs verschont hast. Sag mir, ob ich dir in irgend einer Weise helfen könnte!“
    Aber Gorgo hob kaum den Kopf. „Störe mich nicht, Däumling!“ sagte er. „Ich träume eben, ich flöge hoch droben in der Luft umher, und ich will nicht erwachen.“
    „Du mußt dir Bewegung machen und dich darum kümmern, was um dich her vorgeht,“ mahnte der Junge. „Sonst siehst du bald ebenso elendig aus wie die andern Adler hier.“
    „Ich wünschte, ich wäre schon wie sie. Sie sind so traumverloren, daß sie nichts mehr berühren kann,“ sagte Gorgo.
    Als es Nacht geworden war und alle Adler schliefen, ertönte ein leichtes Kratzen an dem Stahldrahtnetz, das den Adlerkäfig

Weitere Kostenlose Bücher