Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
Holgersson war die ganze Zeit neben der Schar hergegangen und hatte alles gehört, was die Lehrerin erzählte. Er wußte also, daß sie ausgezogen waren, um jemand, der drüben in der Villa krank lag, einige Lieder zu singen. Und nun sollte aus dem Gesange nichts werden, weil der Kranke möglicherweise dadurch beunruhigt und aufgeregt werden könnte!
„Wie schade, wenn sie wieder umkehrten, ohne gesungen zu haben!“ dachte er. „Sie könnten ja doch leicht erfahren, ob der Kranke drinnen das Zuhören ertragen kann. Warum geht denn die Lehrerin nicht hin zu der Villa und erkundigt sich?“
Aber dieser Gedanke schien der Lehrerin gar nicht zu kommen, sie kehrte vielmehr um und trat langsam den Heimweg an. Die Schulkinder machten ein paar Einwendungen, aber sie beschwichtigte sie. „Nein, nein,“ sagte sie. „Es war ein dummer Einfall von mir, daß ich jetzt so spät am Abend noch hierher wanderte, um zu singen. Wir würden nur stören.“
Da dachte Nils Holgersson, wenn keines von den andern es tun wolle,dann müsse er jetzt hingehen und zu erfahren suchen, ob der Kranke wirklich zu schwach sei, ein Lied anzuhören. Rasch lief er von der Schar weg und aufs Haus zu. Vor der Villa hielt eben ein Wagen, und neben den Pferden stand ein alter Kutscher. Der Junge war kaum bis zum Hauseingang hingelangt, als die Tür aufging und ein Mädchen mit einem Servierbrett heraustrat.
„Sie werden wohl noch eine Weile auf den Herrn Doktor warten müssen, Larsson,“ sagte sie. „Die gnädige Frau schickt Ihnen hier indessen zur Stärkung etwas Warmes.“
„Wie geht es dem Herrn?“ fragte der Kutscher.
„Er hat jetzt keine Schmerzen mehr, aber es ist, als stehe das Herz still. Schon seit einer Stunde liegt er ganz regungslos da. Wir wissen kaum, ob er noch lebt.“
„Gibt der Doktor keine Hoffnung?“
„Es kann gehen, wie es will, Larsson, ja es kann gehen, wie es will. Es ist, als lausche er immerfort auf einen Ruf. Kommt dieser Ruf von oben, so muß er ihm folgen.“
Nils Holgersson lief rasch den Weg hinunter, um die Lehrerin und die Kinder einzuholen; das Sterben seines Großvaters fiel ihm ein. Der Großvater war Seemann gewesen, und ganz zuletzt noch hatte er gebeten, man solle das Fenster aufmachen, damit er den Wind noch einmal rauschen höre. Wenn nun der Kranke dort drüben mit so großer Vorliebe im Kreise der Jugend geweilt hatte und ihren Liedern und Spielen so gerne zuhörte …
Die Lehrerin ging unschlüssig die Allee hinunter. Jetzt, wo sie von Nääs wegging, war es ihr, als müsse sie wieder umkehren; vorhin aber war sie auch wieder umgekehrt. Ach, sie war noch immer gleich ängstlich und unsicher!
Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging schweigend ihres Weges dahin. In der Allee war so tiefer Schatten, daß sie nicht sehen konnte; aber es war ihr, als höre sie viele, viele Töne um sich her, und von allen Seiten drangen unzählige ängstliche Stimmen auf sie ein. „Wir sind gar so weit weg, alle wir andern,“ sagten die Stimmen. „Du aber bist ganz nahe. Geh und sing ihm vor, was wir alle fühlen!“
Und sie erinnerte sich an einen nach dem andern, denen der Vorsteher geholfen und für die er gesorgt hatte. Übermenschlich hatte er sich angestrengt, um allen Bedürftigen zu helfen. „Geh und sing ihm!“ flüsterte es um die Lehrerin her. „Laß ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule! Denke nicht, du seist gering und unbedeutend! Denk an die große Schar, die hinter dir steht! Gib ihm zu verstehen, ehe er von uns geht, wie innig wir ihn lieben!“
Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie plötzlich einen Ton, der mit den Stimmen und mahnenden Rufen in ihrer Seele nichts zu tun hatte, sondern aus der äußern Welt um sie her an ihr Ohr drang. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme, es klang wie das Zwitschern eines Vogels,oder wie das Zirpen einer Heuschrecke. Aber es rief doch ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.
Und mehr brauchte es nicht, um der kleinen Lehrerin den Mut zurückzugeben. –
Die Lehrerin und die Kinder hatten vor den Fenstern des Vorstehers ein paar Lieder gesungen, und selbst die Lehrerin meinte, der Gesang habe in dieser Abendstunde wunderbar schön geklungen; es war gewesen, wie wenn unbekannte Stimmen mitgesungen hätten. Der ganze Himmelsraum war wie von Tönen und Lauten erfüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, da waren alle diese Töne erwacht und hatten mit eingestimmt.
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