Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
öffnete sich plötzlich die Haustür, und jemand trat rasch heraus. „Nun kommen sie, mir zu sagen, ich solle aufhören,“ dachte die Lehrerin. „Wenn es ihm nur nicht geschadet hat!“
Aber das war nicht der Fall. Sie wurde gebeten, ins Haus hereinzukommen, sich etwas auszuruhen und dann noch ein paar Lieder zu singen.
Auf der Treppe trat ihr der Doktor entgegen. „Für diesmal ist die Gefahr vorüber,“ sagte er. „Er hatte in einer Art Betäubung gelegen, und das Herz schlug immer langsamer. Aber als Sie zu singen anfingen, war es, als wenn er einen Ruf vernommen hätte von allen, die seiner noch bedürfen. Er fühlte, daß die Zeit, wo er von seiner Arbeit ausruhen darf, noch nicht angebrochen sei. Singen Sie ihm noch mehr und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen. Jetzt dürfen wir ihn vielleicht noch ein paar Jahre behalten.“
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Die Reise nach Vemmenhög
Donnerstag, 3. November
Zu Anfang November flogen die Wildgänse eines Tages über das Hallandgebirge nach Schonen hinein. Sie hatten sich einige Wochen auf den großen Ebenen bei Fallköping aufgehalten, und da sich mehrere andre Scharen Wildgänse auch dort niedergelassen hatten, war es eine schöne Zeit für alle gewesen; die Alten hatten viel miteinander geplaudert und die Jungen in allen Arten von Leibesübungen gewetteifert.
Was nun Nils Holgersson betrifft, so war er nicht so sehr erfreut über den langen Aufenthalt in Westgötland. Er gab sich alle Mühe, seinen Mut aufrecht zu erhalten, aber es wurde ihm sehr schwer, sich mit seinem Schicksal auszusöhnen.
„Hätte ich doch nur erst Schonen hinter mir und wäre glücklich im Ausland!“ dachte er. „Dann wüßte ich, daß ich nichts mehr zu hoffen hätte, und würde ruhiger werden.“
Eines Morgens in aller Frühe waren dann die Wildgänse aufgebrochen und nach Halland hinuntergeflogen. Im Anfang hatte der Junge keine große Lust, sich die Landschaft zu betrachten; er meinte, es werde da nicht viel Neues zu sehen sein. Der östliche Teil war ein hügeliges Land mit großen Heidestrecken, die an Småland erinnerten, und weiter gegen Westen ragten runde, kahle, durch Buchten getrennte Berggipfel auf, ungefähr wie in Bohuslän.
Als aber die Wildgänse immer weiter südwärts über den schmalen Küstenstrich hinflogen, beugte sich der Junge weit über den Hals des Gänserichs vor und verwandte kein Auge mehr vom Boden. Er sah, daß die Berge sich lichteten und die Ebene sich ausbreitete. Und zugleich sah er auch, daß die Küste weniger zerrissen war. Die Schären davor wurden spärlich und immer spärlicher,bis sie schließlich ganz verschwanden und das weite offene Meer bis dicht ans Festland heranreichte.
Und dann hörte der Wald auf. Weiter droben im Lande hatte der Junge nun freilich schon viele schöne Ebenen gesehen; aber alle waren von Wäldern umrahmt gewesen. Der Wald hatte sich überall ausgebreitet. Es war, als ob das Land dort eigentlich nur den Bäumen gehörte, und das bebaute Land sah nur wie große gerodete Plätze im Walde aus. Und auf allen Ebenen hatten Baumgruppen und Gehölze gestanden, wie um zu zeigen, daß der Wald jeden Augenblick einschreiten und von dem Land wieder Besitz ergreifen könnte.
Aber hier war das ganz anders. Hier hatte das Flachland das Übergewicht. Unbeschränkt erstreckte es sich bis zum Horizont. Es gab wohl auch große, wohlgepflegte Forste, aber keinen wilden Wald. Und gerade daß das Land so offen dalag, mit einem Acker neben dem andern, erinnerte den Jungen an Schonen. Den offnen Strand mit seinen sandigen Ufern und Tanghaufen glaubte er auch wiederzuerkennen. Es wurde ihm froh und ängstlich zugleich ums Herz. „Jetzt kann ich nicht mehr weit von meiner Heimat entfernt sein,“ dachte er.
Die Landschaft veränderte sich aber doch wieder; große Bäche kamen aus Westgötland und Småland dahergeschäumt und unterbrachen die Einförmigkeit der Ebene; Seen, Moore, Heidestrecken, mit Flugsand bedeckte Felder versperrten den Äckern den Weg; aber diese breiteten sich doch immer weiter aus, bis hinunter zum Hallandgebirge, das an der Grenze von Schonen mit seinen schönen Schluchten und Tälern aufragt.
Schon mehrere Male hatten die jungen Gänse in der Schar die alten gefragt: „Wie sieht es im Auslande aus? Wie sieht es im Auslande aus?“
„Wartet nur, wartet nur! Ihr werdet es bald erfahren,“ hatten die Alten geantwortet, die das Land schon so oft auf und ab geflogen waren.
Als die
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