Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
ein Ende,“ dachte der Junge und bohrte sich tiefer in das Stroh hinein, um es wärmer zu haben.
Die Kuh hatte sich indessen nicht beruhigt, und jetzt begann sie plötzlich mit dem Jungen zu sprechen. „Hat nicht einer von euch vorhin gesagt, er sei ein Wichtelmännchen? Wenn er wirklich eines ist, versteht er wohl auch, eine Kuh zu versorgen?“
„Was fehlt dir denn?“ fragte der Junge.
„Alles mögliche fehlt mir,“ antwortete die Kuh. „Ich bin weder gemolken noch versorgt worden, habe kein Futter für die Nacht und keine Streu unter mir. Die Hausmutter kam in der Dämmerung zu mir in den Stall, um mich wie gewöhnlich zu versorgen, aber sie fühlte sich so krank, daß sie sogleich wieder hineingehen mußte, und seither ist sie nicht wiedergekommen.“
„Da ist es recht schade, daß ich so klein und schwach bin,“ sagte der Junge, „denn ich werde dir leider nicht helfen können.“
„Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, du seiest schwach, weil du so klein bist?“ sagte die Kuh. „Alle die Wichtelmännchen, von denen ich je gehört habe, waren so stark, daß sie ein ganzes Fuder Heu tragen und eine Kuh mit einem einzigen Faustschlag töten konnten.“
Unwillkürlich mußte der Junge lachen. „Das waren Wichtelmännchen von einer andern Sorte als ich!“ rief er. „Aber ich will deine Halskette lösen und die Stalltür aufmachen, dann kannst du hinausgehen und deinen Durst an einer der Wasserpfützen löschen. Und dann will ich sehen, ob ich auf den Heuboden hinaufklettern und Heu in deine Krippe hinunterwerfen kann.“
„Ja, das wäre doch immerhin etwas,“ sagte die Kuh.
Der Junge tat, wie er gesagt hatte; und als die Kuh eine volle Krippe vor sich hatte, hoffte er endlich selbst schlafen zu dürfen. Aber kaum hatte er es sich auf seinem Lager bequem gemacht, als die Kuh wieder mit ihm zu sprechen begann.
„Du wirst gewiß ärgerlich über mich, wenn ich dich um etwas bitte,“ sagte sie.
„Gewiß nicht,“ antwortete der Junge, „wenn es nur etwas ist, was ich tun kann.“
„Dann sei so gut und geh in das Haus hier über dem Hof gerade gegenüber und sieh nach, wie es der Hausmutter geht. Ich fürchte, es ist ihr ein Unglück zugestoßen.“
„Nein, das kann ich nicht, denn ich habe nicht den Mut, mich vor den Menschen sehen zu lassen.“
„Vor einer alten, kranken Frau wirst du dich doch nicht fürchten?“ sagte die Kuh. „Und du brauchst nicht einmal zu ihr in die Stube hineinzugehen. Stell dich nur vor die Tür und schau zu dem Türspalt hinein.“
„Ja, wenn du weiter nichts verlangst, kann ich es ja tun,“ sagte der Junge.
Damit öffnete er die Stalltür und trat auf den Hofplatz hinaus. Es war eine schreckliche Nacht, um draußen zu sein. Weder Mond noch Sterne leuchteten, der Wind heulte, und der Regen prasselte hernieder. Das Schlimmste aber war, daß sieben große Eulen auf dem Dachfirst des Wohnhauses saßen. Wie schauerlich war es für den Jungen, sie da droben krächzen und über das schlechte Wetter klagen zu hören! Aber noch schrecklicher war ihm doch das Bewußtsein, daß es um ihn geschehen sei, sobald auch nur eine von ihnen ihn erblicke.
„Ja, wer klein ist, der ist zu bedauern,“ sagte der Junge, als er auf den Hof trat. Und er hatte ein Recht, so zu sprechen. Zweimal wurde er vom Sturm umgeblasen, ehe er das Wohnhaus erreichte, und einmal fegte ihn ein Windstoß in einen Wassertümpel hinein, in dem er beinahe ertrunken wäre. Aber schließlich erreichte er doch sein Ziel.
Als er vor dem Hause angekommen war, kletterte er ein paar Stufen hinauf, stieg mühselig über eine Schwelle hinüber und gelangte in den Flur. Die Zimmertür war geschlossen, aber in der einen Ecke war ein großes Stück herausgesägt, damit die Katze aus und eingehen könnte. Das Hineingucken in die Stube fiel also dem Jungen durchaus nicht schwer.
Aber kaum hatte er einen Blick hineingeworfen, als er auch schon erschrocken den Kopf zurückbog. Auf dem Boden da drinnen lag eine alte grauhaarige Frau. Sie rührte sich nicht und stöhnte auch nicht, und ihr Gesicht sah merkwürdig weiß aus. Es war, als ob ein unsichtbarer Mond einen bleichen Schein darauf werfe.
Da tauchte in dem Jungen eine Erinnerung auf. Als sein Großvater starb, war dessen Gesicht gerade auch so sonderbar weiß geworden. Die alte Frau, die da drinnen auf dem Boden lag, mußte tot sein. Sie hatte wohl einen Schlag bekommen, und der Tod hatte sie so rasch ereilt, daß sie sich nicht einmal mehr zu
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