Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
Bett hatte legen können.
Der Junge erschrak fürchterlich; mitten in der stockfinstern Nacht war erganz allein mit einer Toten. Hals über Kopf stürzte er über die Schwelle und die Treppe hinunter und lief in größter Eile in den Stall zurück.
Als er der Kuh erzählt hatte, was er in der Stube gesehen, hörte sie auf zu fressen. „So, so, die Hausmutter ist tot,“ sagte sie. „Dann wird es auch mit mir bald aus sein.“
„Es wird schon jemand kommen, der Euch versorgt,“ sagte der Junge tröstend.
„Ach,“ sagte die Kuh, „du weißt nicht, daß ich schon doppelt so alt bin, als eine Kuh sonst zu werden pflegt, ehe sie auf die Schlachtbank gelegt wird. Aber wenn mich meine gute Hausmutter nicht mehr versorgen kann, habe ich auch gar kein Verlangen, noch länger zu leben.“
Eine Weile schwieg sie; aber der Junge merkte wohl, daß sie weder schlief noch fraß. Und es dauerte auch nicht lange, da begann die Kuh von neuem: „Liegt sie auf dem Boden?“
„Ja, mitten in der Stube,“ antwortete der Junge.
„Wenn sie hier im Stall war, sprach sie immer von allem, was sie bekümmerte,“ fuhr die Kuh fort. „Ich verstand alles, was sie sagte, obgleich ich ihr nicht antworten konnte. Und gerade in den letzten Tagen sagte sie, sie fürchte, wenn es bei ihr ans Sterben gehe, werde niemand bei ihr sein. Niemand werde ihr die Augen zudrücken, niemand ihr die Hände auf der Brust falten, wenn sie tot sei. Möchtest du nun nicht hinübergehen und dies tun?“
Der Junge war unentschlossen. Er erinnerte sich, daß seine Mutter den Großvater, als er gestorben war, sehr fürsorglich zurecht gelegt hatte. Und er wußte, daß dies etwas war, was man tun mußte. Aber er fühlte auch, daß er nicht den Mut habe, mitten in dieser schauerlichen Nacht zu der Toten hinüberzugehen. Er gab der Kuh keine abschlägige Antwort, aber er machte auch keinen Schritt in der Richtung der Stalltür.
Das alte Tier verhielt sich eine Weile stumm, als ob es auf Antwort wartete, und als der Junge fortgesetzt schwieg, wiederholte es seine Bitte nicht; statt dessen begann es dem Jungen von seiner Hausmutter zu erzählen.
Und wie viel war doch da zu erzählen! In allererster Linie von allen den Kindern, die sie aufgezogen hatte. Die Kinder waren ja jeden Tag in den Stall gekommen, und im Sommer waren sie mit dem Vieh auf das Moor und die Weideplätze gezogen. Die alte Kuh hatte alle genau gekannt, und es waren lauter gesunde, fröhliche, fleißige Kinder gewesen. „Ja, ja, das Vieh weiß sehr gut, ob die Hirten tüchtig sind,“ sagte die Kuh.
Und ebensoviel hatte sie von dem Hof zu berichten. Er war nicht immer so armselig gewesen wie jetzt. Ein sehr ausgedehntes Besitztum war es, obgleich es zum größten Teil aus Moor und steinigem Heideland bestand und nicht viel Platz zu Äckern vorhanden war; aber als Viehweide war es überall ausgezeichnet. Zu einer Zeit hatte in dem ganzen langen Stallgebäude in jedem Stand eine Kuh ihren Platz gehabt, und der jetzt ganz leere Ochsenstall war voll schöner Ochsen gewesen. Und damals hatte im Wohnhaus und im Stall eitel Lust und Freude geherrscht. Wenn die Hausmutter die Stalltür öffnete,sang und trällerte sie, und alle Kühe brüllten vor Freude, wenn sie sie kommen hörten.
Aber der Hausherr war gestorben, als die Kinder noch klein waren und sich noch nicht nützlich machen konnten. Die Frau hatte den Hof übernehmen müssen mit all seiner Arbeit und all seiner Sorge. Sie war stark wie ein Mann und pflügte und erntete. Wenn sie am Abend zum Melken in den Stall kam, war sie bisweilen müde und weinte. Aber sobald sie an ihre Kinder dachte, wurde sie wieder froh. Dann wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sagte: „Das tut nichts, sobald meine Kinder erwachsen sind, bekomme auch ich gute Tage. Ja, wenn nur sie heranwachsen!“
Doch sobald die Kinder erwachsen waren, überfiel diese eine ganz eigentümliche Sehnsucht. Sie wollten nicht daheim bleiben, und so zogen sie fort in ein fremdes Land. Die Mutter bekam keine Hilfe. Einige der Kinder hatten sich verheiratet, ehe sie weggezogen waren, und diese ließen ihre kleinen Kinder bei der Großmutter zurück. Und gerade wie früher ihre Kinder, so begleiteten jetzt die Enkel die Frau in den Stall. Sie hüteten die Kühe, und es waren auch lauter gute, gesunde Menschenkinder. Und abends, wenn die Frau gar so müde war, daß sie beim Melken fast einschlief, rüttelte sie sich doch wieder auf und faßte neuen Mut, sobald sie an die
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