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Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Titel: Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolf Taschner
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sicher, so hätten sie geantwortet. Denn sie glaubten sich vorstellen zu können, dass Thot – und bei Göttern ist ja vieles uns Menschen Undenkbare möglich – unendlich lange an der Zusammensetzung des Auges arbeitet, dass er nicht nur die ersten sechs Bruchstücke zusammensetzt, sondern alle unendlich vielen. Dann hätte er das ganze Auge lückenlos geheilt. In einer Formel geschrieben:
    .
    Das Ungeheuerliche an dieser Formel sind die drei Punkte … nach dem letzten Pluszeichen. Denn sie symbolisieren, so Newton und Leibniz, unendlich viele weiter zu addierende Bruchzahlen, die nachfolgende stets halb so groß wie die zuvor genannte. Aber eine Addition mit unendlich vielen Summanden kann niemand bewerkstelligen. Nicht im Kopf, nicht mit Bleistift und Papier, nicht mit dem Abakus und auch nicht mit einem hochmodernen High Performance Computer.
    Den Erfindern des „Kalküls“ war dies zwar bewusst, aber sie meinten, dass zwar wir hinfälligen Menschen bloß endlich viele Summanden addieren können, Gott – für Newton und Leibniz ist es nicht mehr einer der ägyptischen Götter, sondern der christliche Gott – hingegen habe in seiner Allmacht auch bei einer Addition mit unendlich vielen Summanden kein Problem. Und insgeheim waren sie stolz, dass ihnen mit dem „Kalkül“, wie sich Einstein gerne ausdrückte, ein „Blick in die Karten des Alten“ gegönnt war, sie dem Allmächtigen ein Stück des Geheimnisses beim Umgang mit dem Unendlichen entreißen konnten.
    Wie gingen die Erfinder des „Kalküls“ vor? Wir wollen die unendliche Summe

    ausrechnen, behaupten sie. Bei ihr werden unendlich viele Summanden addiert, der erste Summand ist ½ und der jeweils nachfolgende stets um die Hälfte kleiner als sein Vorgänger. Lassen wir den ersten Summanden ½ weg, bleibt

    übrig. Hier steht offenkundig genau die Hälfte der obigen Summe. Und diese Hälfte ist um ½ kleiner als die obige Summe. Also muss die obige Summe 1 sein. Denn zieht man von 1 die Zahl ½ ab, bleibt ½ übrig, und das ist die Hälfte von 1.
    Wer das zum ersten Mal liest, wird anfangs noch stutzig sein, weil das Argument wie der Trick eines Falschspielers klingt. Aber liest man es langsam, mehrfach und lässt man sich auf die Gedankenführung ein, überzeugt sie immer mehr, bis man von ihrer Stringenz beeindruckt ist.
    Wer sich davon sicher nicht hätte beeindrucken lassen, war Archimedes. Seine Deutung hielt er für überzeugender: Einerseits bleibt jede endliche Summe der Bruchstücke des Udjat-Auges kleiner als 1. Andererseits wird jede Zahl, die kleiner als 1 ist, von einer endlichen Summe der Bruchstücke des Udjat-Auges übertroffen, wenn Thot nur genügend viele dieser Bruchstücke addiert. Die Summe der Bruchstücke des Udjat-Auges nähert sich daher der Zahl 1 beliebig genau an. Mehr aber könne man nicht sagen.
    Dass Archimedes mit seiner Skepsis recht hatte, zeigt das folgende Beispiel einer anderen unendlichen Summe, nämlich:
    1 + 2 + 4 + 8 + 16+ … .
    Halten wir uns an die Erfinder des „Kalküls“, lautet der analoge Gedankengang so: Wir wollen diese unendliche Summe ausrechnen, behaupteten sie. Bei ihr werden unendlich viele Summanden addiert, der erste Summand ist 1 und der jeweils nachfolgende stets um das Doppelte größer als sein Vorgänger. Lassen wir den ersten Summanden 1 weg, bleibt
    2 + 4 + 8 + 16 + 32 + …
    übrig. Hier steht offenkundig genau das Doppelte der obigen Summe. Und dieses Doppelte ist um 1 kleiner als die obige Summe. Also muss die obige Summe − 1 sein. Denn ziehtman von − 1 die Zahl 1 ab, bleibt − 2 übrig, und das ist das Doppelte von − 1.
    Es ist wortgetreu das gleiche Argument wie oben. Wer vom obigen Gedankengang überzeugt war, muss es hier genauso sein. Aber das Argument der Erfinder des „Kalküls“ führt zu dem wahrhaft paradoxen Ergebnis
    1 + 2 + 4 + 8 + 16+ … = −1.
    Da stimmt dochetwas nicht! In der Tat: Die Erfinder des „Kalküls“ muteten sich bei ihrer Behauptung, mit unendlichen Summen rechnen zu können, zu viel zu. 6 Sie waren mathematische Genies, aber mathematische Götter waren sie nicht.

Die Rinder des Sonnengottes
    Wobei man es sich als bitteres Los vorstellen muss, ein griechischer Gott zu sein, eine jener Gestalten, die Hesiod und Homer in ihren phantasievollen Erzählungen beschrieben haben. Die Götter der Griechen sind – die aufgeklärten Griechen zur Zeit Platons wussten es natürlich – ein Ausbund von Widerlichkeit: der nach allem, was

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