Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
gab er zur Antwort: „Weil ich auf den Schultern von Riesen gestanden bin.“ Das klingt bescheiden; anderen vor ihm sei dafür zu danken, dass er so weit hatte blicken können. In Wahrheit aber ist diese Antwort als Attacke gegen Hooke zu lesen, der zwergenhaft klein war.
Über die Verachtung Hookes hinaus aber ging der abgrundtiefe Hass Newtons auf Gottfried Wilhelm Leibniz, den damals größten Gelehrten des europäischen Festlands, den Newton zwar nie persönlich traf, mit dem er aber in jungen Jahren brieflich korrespondierte. Warum hasste Newton ihn so? Leibniz hatte in der Zeitschrift Acta eruditorum einige Artikel veröffentlicht, in denen er den „Kalkül“ präsentierte, jene mathematische Theorie, als deren Entdecker sich Newton wähnte. Womöglich, so vermutete der argwöhnische Newton, hatte dieser Deutsche die Grundzüge des „Kalküls“ aus seinen Briefen herausgelesen, ihn regelrecht bestohlen. Und das Ärgerlichste aus der Sicht Newtons war, dass die Artikel in der Acta eruditorum viel früher erschienen als Newtons Buch über die Prinzipien der Naturphilosophie. Auf dem Kontinent galt in wissenschaftlichen Kreisen – ohne dass man Newtons Leistungen im Bereich der Physik schmälern wollte – Leibniz als Entdecker des „Kalküls“.
Dass Newtons Gefolgsleute zu jeder sich bietenden Gelegenheit betonten, Newton sei der Erste gewesen, dem die Idee für den „Kalkül“ gekommen war, genügte dem sich in seiner Ehre tief gekränkt Fühlenden nicht. Er wollte, dass ein für alle Mal dokumentiert sei, nur ihm, Sir Isaac Newton, komme der Ruhm zu, den „Kalkül“ entdeckt zu haben. Sich diese Ehre mit einem Zweiten zu teilen, war in seinen Augen undenkbar, denn der Zweite, also Leibniz, sei nicht genialer Entdecker, sondern hinterlistiger Plagiator. Also wurde auf Drängen Newtons von der Royal Society eine Kommission eingesetzt, die in einem Untersuchungsverfahren zu klären hatte, wer als Erster den „Kalkül“ entworfen hatte. Die Tücke dahinter war, dass Newton als Präsident der Royal Society die Mitglieder dieser Kommission wie Marionetten beherrschte und von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen verstand. Der Endbericht, den die nur scheinbar unabhängige und nach objektiven Kriterien urteilende Kommission erstellte, wurde von Newton im Voraus Wort für Wort diktiert. Carl Djerassi, weltberühmter amerikanischer Chemiker mit österreichischen Wurzeln, hat im Zuge seiner zweiten Karriere als Schriftsteller im Drama „Kalkül“ diese von Newton inszenierte Schmiere effektvoll beschrieben.
Nun, dreihundert Jahre später, sind wir angesichts der bekannten Korrespondenz zwischen Newton und Leibniz und der übrigen historischen Umstände sicher, dass die Entdeckung des „Kalküls“ beiden Forschern ungefähr zur gleichen Zeit gelang, aber jedenfalls ohne dass der eine vom anderen abkupferte. Wobei französische Wissenschaftshistoriker nie versäumen, auf die Leistungen des Rechtsgelehrten und Hobbymathematikers Pierre de Fermat hinzuweisen, der bereits vor Newton und Leibniz die Grundzüge des „Kalküls“ erahnt hatte. Aber da Fermat seine Erkenntnisse bloß in Briefen, oft verschleiert, oder in privaten Notizen aufzeichnete, waren sie damals nur dem kleinen Zirkel seiner engsten Freunde bekannt. Erst Jahrzehnte später hat der Schweizer Mathematiker Euler die bahnbrechenden Ideen Fermats einer breiten mathematischen Öffentlichkeit vermittelt.
Der „Kalkül“ dürfte im 17. Jahrhundert wirklich „in der Luft gelegen“ sein: Völlig unabhängig von Fermat, Newton oder Leibniz hatte der japanische Mathematiker Seki Takakazu ein Rechenverfahren entwickelt, das dem in Europa entdeckten „Kalkül“ auf wundersame Weise entspricht.
Aber in Wahrheit hatte bereits Archimedes im dritten vorchristlichen Jahrhundert jedenfalls zu einem gewichtigen Teil den „Kalkül“ vorweggenommen. Ja, er verstand sogar besser als Newton oder Leibniz, wie man ihn präzise begründen kann. An einem einfachen Rechenbeispiel, das Archimedes vielleicht anlässlich seiner Reise nach Alexandria im fernen Ägypten kennengelernt hatte, können wir den Unterschied zwischen dem unbeschwerten Rechnen der ungestümen Draufgänger Leibniz und Newton, die wie Reiter über den Bodensee hinwegfegten, und der tiefsinnigen Gedankenführung des Archimedes gut verstehen:
Ägyptische Brüche
Ägypten war neben Mesopotamien jenes Land, in dem die erste Hochkultur der Menschheit entstand. Wie viele andere Völker
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