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Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Titel: Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolf Taschner
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der grauen Vorzeit glaubten auch die Ägypter an eine Vielzahl von Göttern, die das Schicksal der Menschen und der Welt bestimmen. Der Götterhimmel der Ägypter ist verwirrend groß: Einer der vielen verschiedenen Traditionen gemäß ist Atum der Sonnengott, Schu der Gott der Luft, Tefnut die Göttin der Feuchtigkeit, Geb der Gott der Erde, Nut die Göttin des Himmels, und die Gottheiten Isis, Osiris, Seth, Nephtys sind Urenkel des Atum. Horus, der Sohn von Isis und Osiris, ist der meistverehrte ägyptische Gott. Der Pharao gilt als Verkörperung des Horus auf der Welt. Die Augen des Horus sind Sonne und Mond, wobei der Mond das „Udjat-Auge“ genannt wird.
    Der Sage nach riss Seth, der Bruder von Osiris, Horus das Auge aus, als sich beide Rivalen im Kampf um den Thron von Osiris befanden, und zerbrach es. Thot, der weise Mondgott, Schutzpatron der Wissenschaften und der Schreibkunst, sah die unzählig vielen Teile, große und kleine, und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen.
    Das größte Bruchstück war genau die Hälfte des Udjat-Auges, das zweitgrößte genau ein Viertel des Udjat-Auges. Als Thot sie zusammenfügte, heilte er schon drei Viertel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Achtel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so schon sieben Achtel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Sechzehntel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so 15 Sechzehntel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Zweiunddreißigstel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so 31 Zweiunddreißigstel des Auges. Der nächstgrößte Teil war genau ein Vierundsechzigstel des Udjat-Auges. Thot gab es zu dem bereits geheilten Stück hinzu und heilte so 63 Vierundsechzigstel des Auges. So arbeitete Thot geduldig und setzte bis auf ein Vierundsechzigstel das von Seth zerbrochene Auge des Horus wieder zusammen.
    In dieser eigenartigen Geschichte hatten die Ägypter die Bruchzahlen

    entdeckt. Der Name „Bruchzahl“ ist dabei sehr treffend gewählt, weil er an das zerbrochene Auge des Horus erinnert.
    Wir wissen nicht, ob Archimedes die Geschichte vom zerbrochenen Auge des Gottes Horus gehört hat. Wir wissen nicht einmal mit letzter Bestimmtheit, ob er tatsächlich jemals in Ägypten war. Aber wenn Archimedes diese eigenartige Erzählung vernommen hat, wird er sich sofort die Frage gestellt haben: Was ist, wenn der Gott Thot nicht nur die sechs größten Bruchteile des Auges zusammengesetzt hätte, sondern die Heilung des Auges weiter vorangetrieben hätte? Jeder nachfolgende Bruchteil ist halb so groß wie der vorangegangene; in unendlich viele Bruchstücke ist das Auge zerfallen. Wäre es Thot gelungen, das Auge vollständig wiederherzustellen?
    Ganz sicher nicht, so würde Archimedes geantwortet haben. Denn wie lange er auch geduldig die Bruchstücke addierte, immer noch würden Splitter, gar unendlich viele, übrig bleiben. Aber Archimedes hatte auch erkannt: Je geduldiger Thot arbeitete, umso besser geriet sein Werk. Denn was fehlte, wenn er einmal nach mühsamer Arbeit das Zusammensetzen beendete? Nur jener kleine Teil des Auges, der so groß ist wie das kleinste Bruchstück, das er als Letztes hinzugefügt hatte. Die Lücke wird mit jedem Arbeitsschritt in ihrer Größe halbiert und daher mit der Zeit unscheinbar klein. Allein wenn Thot die ersten 64 Bruchstücke des Auges zusammengesetzt hätte, bliebe nur mehr eine Lücke übrig, die genau

    also weniger als ein Achzehntrillionstel des ganzen Auges ausmacht – wir erinnern uns hier an die Geschichte vom Maharadscha, dem weisen Mann und dem Schachbrett, bei dem auf den 64 Feldern die Anzahl der Reiskörner jeweils verdoppelt wird.
    Daher legen wir Archimedes die folgende Antwort in den Mund: Je geduldiger Thot das Auge des Horus zusammensetzt, umso besser gerät sein Heilungswerk; selbst den kleinsten Hauch einer Lücke, den Horus als winzigen „blinden Fleck“ empfindet, kann Thot nach weiterem mühseligem Aneinanderfügen der Bruchstücke verkleinern.
    Wie schon bei Archimedes wissen wir auch bei Newton oder Leibniz nicht, ob sie die Geschichte vom zerbrochenen Auge des Gottes Horus kannten. Doch ganz sicher hätten die beiden Erfinder des „Kalküls“ anders, deutlich unbefangener als Archimedes geantwortet, hätte man sie gefragt, ob es Thot jemals gelingen würde, das Auge vollständig wiederherzustellen:
    Ganz

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