Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
vertrat vehement die Meinung, die Naturwissenschaft sei das „absolute Organ der Cultur“ und das einzige menschliche Bestreben, das vorankommt. Im Gegensatz dazu seien die anderen Kulturgüter wie Politik, Kunst und Religion letztlich wertlos. Eben dieser du Bois-Reymond, der die Naturwissenschaft verherrlichte und in der Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit erblickte, behauptete anlässlich der Tagung der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ in Leipzig, es gäbe „Grenzen des Naturerkennens“. Nie, so meinte er, werde man wissen, was Materie und Kraft seien, nie das bewusste Empfinden in den unbewussten Nerven zu orten vermögen, nie den Ursprung des Denkens und der Sprache ergründen, nie begreifen, woher der freie, sich zum Guten verpflichtende Wille stamme. „Ignoramus et ignorabimus“, ruft er seinen Kollegen zu: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen.“
Über Jahrzehnte hinweg war David Hilbert als einem von vielen das „Ignorabimus“ ein Dorn im Auge. Schon zu Beginn seiner Radioansprache verdeutlichte er seine Haltung gegen den Skeptizismus des du Bois-Reymond: Wer Mathematik betreibt, so beteuert Hilbert steif und fest, werde letztlich jedes „Ignorabimus“ zu Fall bringen. Habe doch die Naturwissenschaft seit Galilei diesen unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Vor Isaac Newton glaubten die Menschen, die Wandelsterne am Himmel werden von den Flügelschlägen der Engel Gottes angetrieben – ein wunderbares poetisches Bild. Die mathematische Physik Newtons zerbrach es. Die Bewegungen aller Himmelskörper folgen, so Newton, Gleichungen. Gäbe es nur zwei Himmelskörper im ganzen Universum, führten die Lösungen dieser Gleichungen zu den Gesetzen, die Galileis Zeitgenosse Johannes Kepler aus seinen Messungen und Berechnungen entnommen hatte. Bei den unzählig vielen Himmelskörpern, die im Universum hausen, ist es sowohl für Menschen als auch für Rechenmaschinen aussichtslos, den Gleichungen Newtons die exakten Lösungen entlocken zu wollen. Aber nur Mathematik und nicht mehr, davon sind die Astronomen überzeugt, liegt dem Geschehen im Weltall zugrunde.
Pierre Simon Laplace übertrug diesen Gedanken auf die Bewegungen aller Atome des Universums. Damit sei alles in unserer Welt, vom Flügelschlag des Insekts über den Ausbruch des Vesuvs bis hin zum Zerbersten eines Sterns als Supernova, von Gleichungen bestimmt. Nichts gebe es, wo nicht die Mathematik letztlich das Spiel in ihren Händen hielte. Auch wenn die Relativitäts- und die Quantentheorie die Gleichungen Newtons korrigierten, am Prinzip dieser Aussage ändere dies nichts. In der Quantentheorie wird ein physikalisches System, sei es ein Atom, ein DNS-Molekül, eine Katze in einer Kiste, eine Wolke, was auch immer, mit dem geheimnisvollen griechischen Buchstaben ψ ,psi, beschrieben. Er symbolisiert den sogenannten Zustand des Systems. Dieses ψ enthält alle Informationen, die dem System zu eigen sind. Und ψ ist nichts und niemand anderem als der Mathematik unterworfen. Denn ψ gehorcht einer mathematischen Gleichung, die nach Erwin Schrödinger 27 benannt ist.
Folglich durchdringt die Mathematik tatsächlich alles. Und sie selbst, davon war das mathematische Genie Hilbert felsenfest überzeugt, widerlegt du Bois-Reymond. Pathetisch formulierte Hilbert seinen Leitspruch:
„In uns schallt der ewige Ruf: Hier ist das Problem. Suche nach einer Lösung! Du findest sie durch reine Überlegung, denn in der Mathematik gibt es kein ,Ignoramus et ignorabimus‘.“
Hilbert verbannt das geometrische Empfinden
Schon vor 1900 zeigte Hilbert der erstaunten Fachwelt, wie es der Mathematik gelingt, Phänomenen der Wirklichkeit Herr zu werden.
Seitdem Euklid im 3. vorchristlichen Jahrhundert ein Buch über die Geometrie verfasst hatte, das noch zu Hilberts Tagen in den höheren Schulen als mathematisches Lehrbuch diente, waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts alle Gelehrten davon überzeugt, von etwas Handfestem zu sprechen, wenn von „Punkten“, „Strecken“, „Kreisen“, „Dreiecken“ oder „Quadraten“ die Rede ist. Und es gibt ein Werkzeug, mit dessen Hilfe diese Gegenstände konstruiert werden: Zirkel und Lineal. Liegen zwei voneinander verschiedene Punkte in der Zeichenebene vor, ist es klar, wie man an sie das Lineal anlegt und durch sie jene Gerade zeichnet, welche die beiden Punkte trägt. Und es ist klar, wie man den Zirkel in den ersten der beiden
Weitere Kostenlose Bücher