Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Hilberts Namen ankündigen. Als einige Professoren Noethers Anwesenheit an der Universität bekämpften – nicht weil sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, sondern nur, weil die Männer unter sich bleiben wollten –,empörte sich Hilbert: „Meine Herren, eine Fakultät ist doch keine Badeanstalt!“
Der wohl tiefste Denker unter den Mathematikern des 20. Jahrhunderts, Hermann Weyl, beschrieb im Nachruf auf seinen ehemaligen Lehrer Hilbert, wie er von ihm zur Mathematik gelockt worden war (dies ist die Übertragung des englischen Textes ins Deutsche; Weyl hatte 1933 aus Abscheu vor Hitler Deutschland den Rücken gekehrt): „Noch höre ich das Echo vom süßen Tone des Verführers, der Hilbert war und der alle, die ihm begegneten, unwiderstehlich in den Bann der Mathematik zog. Wer nach Beispielen fragt, dem antworte ich mit meiner eigenen Geschichte. Ich fuhr mit 18 als junger Mann vom Lande nach Göttingen. Die Universität wählte ich eigentlich nur, weil der Direktor meiner Schule ein Cousin Hilberts war und mich mit einem Empfehlungsschreiben an ihn ausstattete. Bedenkenlos, ja völlig naiv nahm ich es mir heraus, gerade jenen Kurs zu belegen, den Hilbert in diesem Semester ankündigte: über den Zahlbegriff und die Quadratur des Kreises. Das meiste, was ich dort hörte, war für mich schlicht zu hoch. Aber ich fühlte, dass mir dort die Türen zu einer neuen Welt geöffnet wurden. Nicht lange saß ich zu Hilberts Füßen, da fasste ich beherzt den Entschluss, ich müsse unbedingt alles lesen und studieren, was dieser Mann geschrieben hatte. Nach dem ersten Jahr bin ich mit Hilberts Zahlbericht unter dem Arm nach Hause gereist, und während der Sommerferien habe ich mich mit aller Kraft darin vertieft – ohne dass ich irgendwelche Vorkenntnisse in elementarer Zahlentheorie oder in Galoistheorie hatte. Es waren die glücklichsten Monate meines ganzen Lebens, deren Erinnerung für mich so tröstlich ist, dass weder Zweifel noch Enttäuschungen, die uns allen im Laufe unserer Jahre widerfahren, ihr etwas anhaben können.“
Kein „Ignorabimus“
Wenn der durch und durch selbstbewusste Hilbert von etwas überzeugt war, dann von der grenzenlosen Kraft seiner Wissenschaft. Im Jahre 1930, am Ende seines Wirkens als Professor in Göttingen, hielt er eine Ansprache für das damals neue Radio. Man kann sich lebhaft ausmalen, wie der schon ergraute und von seinen Kollegen verehrte Herr Geheimrat vor das Mikrofon gesetzt und ihm erklärt wurde, dass nun Tausende an den Geräten seiner Stimme lauschen würden. In seinem ostpreußischen Akzent deklamierte er möglichst deutlich Wort für Wort die nachfolgende Rede:
„Das Instrument, welches die Vermittlung bewirkt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Beobachten, ist die Mathematik. Sie baut die verbindende Brücke und gestaltet sie immer tragfähiger. Daher kommt es, dass unsere ganze gegenwärtige Kultur, soweit sie auf der geistigen Durchdringung und Dienstbarmachung der Natur beruht, ihre Grundlage in der Mathematik findet.
Schon Galilei sagt: Die Natur kann nur der verstehen, der ihre Sprache und die Zeichen kennengelernt hat, in der sie zu uns redet. Diese Sprache aber ist die Mathematik, und ihre Zeichen sind die mathematischen Figuren.
Kant tat den Ausspruch: ,Ich behaupte, dass in jeder besonderen Naturwissenschaft nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik enthalten ist.‘“
Nach einigen weiteren Zitaten, mit denen Hilbert die Bedeutung der Mathematik beschwört, 26 endet seine Radioansprache mit den Worten:
„Wir dürfen nicht denen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für uns gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaft überhaupt nicht. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Losung:
Wir müssen wissen, wir werden wissen. “
Uns Heutigen sind diese abschließenden Worte schwer verständlich. Von wem spricht Hilbert, wenn er auf Propheten des Kulturuntergangs anspielt, die „sich in dem Ignorabimus gefallen“?
Um dies beantworten zu können, muss man bis zum Jahr 1872 zurückblicken: auf eine Rede des hervorragenden Physiologen Emil Heinrich du Bois-Reymond, mit der er die damalige Gelehrtenwelt in Erstaunen, ja in blankes Entsetzen versetzt hatte. Du Bois-Reymond war als entschiedener Verfechter des Darwinismus bekannt, er
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