Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Rückführung dieser Behauptung auf die zu Beginn genannten zwanzig Axiome gelingt. Alles andere zählt nicht.
„Aber Sie beschreiben doch Punkte, Geraden und Ebenen, so wie sie sind; warum zählt das in Ihren Augen nicht?“, könnte ein skeptischer Einwand an Hilbert gerichtet werden.
„Das ist schön“, würde Hilbert dem Fragenden antworten, „dass Sie Punkte, Geraden und Ebenen genauso empfinden, wie ich es in den Axiomen beschreibe. Aber ich verlange von keinem, der Geometrie betreibt, dass er die richtige ,Empfindung‘ dafür hat, worum es sich bei einem Punkt, einer Geraden oder einer Ebene handelt. Man könnte diese Worte durch irgendwelche Fremdworte einer exotischen Sprache ersetzen. 28 Anders gesagt: Auf das Wesen dessen, was ein Punkt, eine Gerade oder eine Ebene ist, kommt es mir überhaupt nicht an. Sondern nur darauf, dass all das, was Punkt, Gerade oder Ebene genannt wird, meinen Axiomen gehorcht. Das allein genügt.“
Mit dem Unternehmen, die Liste der zwanzig Axiome aufzustellen, verfolgte Hilbert zwei Ziele, die er auch erreichte:
Erstens gelang es ihm zu beweisen, dass dieses Axiomensystem vollständig ist. Damit ist gemeint, dass alle wahren Sätze der Geometrie logisch aus seinen zwanzig Axiomen hergeleitet werden können. Tatsächlich gibt es in der Geometrie kein „Ignorabimus“: Das, was gewusst werden kann, stimmt mit dem, was aus den Axiomen gefolgert werden kann, überein.
Zweitens gelang es ihm zu beweisen, dass dieses Axiomensystem widerspruchsfrei ist. Es wäre nämlich fatal, würden sich zwei geometrische Sätze aus Hilberts Axiomen herleiten lassen, die einander widersprächen. Dann wäre fünf eine gerade Zahl, und das ganze System stürzte in sich zusammen.
Beide Ziele erreichte Hilbert, weil er beweisen konnte: Sein geometrisches Axiomensystem ist deshalb vollständig und widerspruchsfrei, weil auch das Rechnen mit „unendlichen“ Dezimalzahlen vollständig und widerspruchsfrei vor sich geht.
Doch darf Hilbert sicher sein, dass das Rechnen mit „unendlichen“ Dezimalzahlen vollständig und widerspruchsfrei vor sich geht? Denn um ein „gewöhnliches“ Rechnen handelt es sich hierbei nicht.
Unendliche Dezimalzahlen
Mit jemandem zu diskutieren, der bezweifelt, dass sechs mal sieben zweiundvierzig ergibt, ist sinnlos. Das Rechnen mit den Zahlen 1, 2, 3, … besitzt, wie Hermann Weyl sagt, „den Charakter einer aus völlig durchleuchteter Evidenz geborenen, klar auf sich selbst ruhenden Überzeugung“. Niemand hat auch nur den geringsten Zweifel, dass unmissverständlich feststeht, wie man ganze Zahlen addiert, subtrahiert, multipliziert. Die Entscheidung, welche von zwei verschiedenen Zahlen die größere ist, wird stets einhellig getroffen. Und auch die Division geht nach glasklaren Regeln vor sich.
Nichts belegt diese Gewissheit besser als das Vertrauen, das wir alle in die elektronischen Rechenmaschinen setzen. Nie in der Geschichte der Menschheit wurde auch nur annähernd so viel gerechnet wie in unseren Tagen – zwar nicht von Menschen, aber von Maschinen. Menschen verlernen zunehmend selbst die einfachsten Rechenfertigkeiten und verlassen sich blind auf die Maschinenergebnisse. Ein eigenartiger Trend zur freiwilligen Unterwerfung, der dann gefährlich wird, wenn damit zugleich die Kontrolle über die Programmierung der Maschinen verloren geht.
Ein zugegeben bizarres Beispiel beweist, wie felsenfest wir von der Sicherheit des Rechnens mit ganzen Zahlen überzeugt sind. In einem früheren Kapitel sprachen wir von der Größe π , die das Verhältnis vom Umfang zum Durchmesser eines Kreises beschreibt und deren erste 35 Stellen nach dem Komma
π
= 3,141 592 653 589 793 238 462 643 383 279 502 88 …
lauten. Um 1600 hatte der Rechenmeister Ludolph van Ceulen 35 Jahre gebraucht, bis er zu diesem Ergebnis gelangt war. Heute kann man in Millisekunden die ersten zehntausend Stellen von π nach dem Komma mit dem elektronischen Rechner hervorzaubern. Allerdings werden diese nicht mehr nach den umständlichen Formeln ermittelt, die noch Ludolph verwendet hatte, sondern mit sehr effektiven Rechenmethoden, die unter anderem von Carl Friedrich Gauß, dem bedeutendsten Mathematiker der Neuzeit, stammen. Welche Methode man auch immer verwendet, schließlich endet sie bei der Addition, Subtraktion, Multiplikation von ganzen Zahlen und dem Größenvergleich von zwei ganzen Zahlen. Denn sonst könnte man sie nicht im elektronischen Rechner programmieren.
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