Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
anderen Seite am besten beschreiben: Was bedeuten die drei Punkte am Ende der riesenlangen Ziffernentwicklung? Hilberts Antwort würde lauten:
„Dies ist die Dezimalentwicklung von π . Auf den ganzzahligen Teil 3 folgen unendlich viele Dezimalstellen. Die ersten 35 habe ich angeschrieben, unendlich viele weitere folgen nach. Natürlich gelingt es nicht, sie anzuschreiben. Aber meine Axiome lassen zu, dass ich sie mir alle wie gegeben denken darf. Dies meine ich im folgenden Sinn: Von jeder Behauptung über die Dezimalstellen von π kann mit meinen Axiomen jedenfalls im Prinzip entschieden werden, ob sie zutrifft oder nicht.“
Poincaré wäre in seiner Antwort weitaus vorsichtiger:
„Dies ist die Dezimalentwicklung von π . Auf den ganzzahligen Teil 3 folgen hier 35 Dezimalstellen. Doch damit ist die Dezimalentwicklung noch nicht zu Ende. Es gibt ein Verfahren, nach dem man auch 350, oder 3500, ja beliebig viele Dezimalstellen von π nach dem Komma berechnen kann. Beliebig viele, aber stets immer nur endlich viele! Die Vorstellung, es gäbe Axiome, mit denen die Gesamtheit der Behauptungen über die Dezimalstellen von π in wahre und in falsche Aussagen eingeteilt werden können, widerspricht diametral dem Wesen des Unendlichen.“
Hilbert starb 1943, Poincaré hingegen wurde nur 58 Jahre alt und starb knapp vor dem Ersten Weltkrieg. Dies trug maßgeblich dazu bei, dass die Mathematik in Paris in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts nicht die gleiche Blüte erlebte wie in Göttingen. Überdies raffte der Krieg eine große Zahl mathematischer Talente brutal hinweg, und die wenigen jungen französischen Intellektuellen, die sich in der Zwischenkriegszeit mit Mathematik auseinandersetzen wollten, fühlten sich gleichsam verlassen. Die alten Professoren an den Universitäten hatten kaum etwas vom Elan des Henri Poincaré; die verstaubten Vorlesungen orientierten sie immer noch an den altehrwürdigen, aber bereits antiquierten Lehrbüchern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. 32
Eine Wissenschaft, auf Sand gebaut
So war es nicht in Paris, sondern in Zürich und in Amsterdam, wo zwei Mathematiker von Weltrang den Spuren Henri Poincarés folgten. In Amsterdam war es Luitzen Egbertus Jan Brouwer, der bereits in seiner 1907 verfassten Doktorarbeit „Über die Grundlagen der Mathematik“ und in der im darauffolgenden Jahr erschienenen Schrift „Die Unverlässlichkeit der logischen Prinzipien“ in selbstbewusstem Ton die Tragfähigkeit einer Mathematik bezweifelte, die sich allein auf formale Axiome stützt. Und in Zürich war es Hermann Weyl, der 1908 ein Buch veröffentlichte, in dessen Vorwort gleich zu Beginn zu lesen war: „In dieser Schrift handelt es sich nicht darum, den ,sicheren Fels‘,auf den das Haus der Analysis gegründet ist, im Sinne des Formalismus mit einem hölzernen Schaugerüst zu umkleiden und nun dem Leser und am Ende sich selber weiszumachen: dies sei das eigentliche Fundament. Hier wird vielmehr die Meinung vertreten, dass jenes Haus zu einem wesentlichen Teil auf Sand gebaut ist.“
Die „Analysis“, das Rechnen mit den unendlichen Dezimalzahlen, dem Newton, Leibniz und die Heerschar der Mathematiker, Naturwissenschaftler und Ingenieure bisher blind vertrauten, sei, so Weyl, wie ein schwankendes Schiff, von dem sogar befürchtet werden muss, dass es irgendwo Leck geschlagen habe. Doch 13 Jahre später kam es noch dicker:
Anfang der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen und hatte Ruinen in den Städten und in den Seelen der Menschen hinterlassen, Aufstände, Rebellionen, Wirtschaftskrisen und Hyperinflation waren an der Tagesordnung, verfasste Herrmann Weyl im vom Kriege verschonten Zürich einen fulminanten, in prachtvollem Stil verfassten Artikel mit dem Titel „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik“. In ihm stellte er sich mit Verve gegen seinen Lehrer Hilbert und auf die Seite Poincarés.
In der Mathematik herrsche, so Weyl, eine „innere Haltlosigkeit der Grundlagen“. An vielen Stellen dieser Schrift stellt man fasziniert fest, wie Weyl, obwohl über die Fundamente der Mathematik sprechend, Formulierungen wählt, die dem wirtschaftlichen und politischen Umfeld dieser krisengeschüttelten Zeit entnommen sind. Wenn er zum Beispiel von „halb bis dreiviertel ehrlichen Selbsttäuschungsversuchen“ spricht, „denen man im politischen und philosophischen Denken so oft begegnet“, damit aber die Vertreter
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