Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Öffentlichkeit vermeiden wollte. Die jungen Vertreter ihrer Schulen sprachen im gemäßigten und umgänglichen Ton. Auch Gödel nahm an der Tagung teil, trug über seine Dissertation 36 vor und erntete dafür Anerkennung. Am Ende der Tagung meldete sich bei der Abschlussdiskussion Gödel zu Wort und tat seine neuste Erkenntnis kund, die er in der Habilitationsschrift veröffentlichen werde: dass formale Systeme, welche die Arithmetik der Zahlen beinhalten, notwendig unvollständig sind.
Diese Wortmeldung schlug bei denen, die ihren Inhalt verstanden, wie eine Bombe ein. Hilbert selbst nahm an dieser Diskussion nicht teil, weil er gerade auf dem Weg zu seiner Radioansprache war, bei der er sein „Wir können wissen, wir werden wissen!“ verkündete. Aber Bernays und von Neumann waren sich des Stellenwerts der Aussage Gödels bewusst: Hilberts Programm, so wie sich sein Erfinder dies vorstellte, war hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. Das „Wir können wissen, wir werden wissen!“ stimmte schlichtweg nicht. Erst Monate später wagten sie es, Hilbert darüber zu informieren, so sehr fürchteten sie den Ärger ihres Lehrers und Meisters.
Bis zum Ende seines Lebens weigerte sich Hilbert, den Unvollständigkeitssatz Gödels in seiner Tragweite anzuerkennen.
Gespenster in Princeton
Gödel selbst fand seine Erkenntnis außerordentlich ermutigend. Er war felsenfest überzeugt, dass die Mathematik, auch jene, die das Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen erlaubt, widerspruchsfrei ist. Nimmt man diesen Standpunkt ein, ist Hilberts Programm eine unnötige Fleißaufgabe. Und es ist wenig verloren, wenn man erkennt, dass diese Fleißaufgabe undurchführbar ist.
Dafür aber viel gewonnen. Denn wenn es eine Aussage gibt, von der man feststellt, dass sie innerhalb des logischen Systems, in dem sie formuliert wurde, weder beweisbar noch widerlegbar ist, dann steht diese Aussage als mögliches neues Axiom zur Verfügung. Das bedeutet, man könnte gleichsam per Dekret erklären, dass die Aussage Gültigkeit besitzt, und hat damit das bisherige System um diese Aussage bereichert. Und auch das um diese Aussage erweiterte System bleibt widerspruchsfrei. Man könnte aber genauso verfügen, dass die Negation dieser Aussage zutrifft. Dann erhält man aus dem bisherigen System ebenfalls ein erweitertes, aber anderes System, das genauso widerspruchsfrei ist. 37
Und man wird nie um Aussagen verlegen sein, von denen feststeht, dass sie innerhalb des logischen Systems, in dem sie formuliert wurden, weder beweisbar noch widerlegbar sind. Es gibt sie zuhauf – und in den jeweils bereicherten Systemen mindestens so viele wie zuvor: unendlich viele.
Darum, so erkannte Gödel, gibt es eine überbordende Unzahl von verschiedenartigsten Möglichkeiten, Mathematik zu betreiben. Abgesehen vom festen Kern der Arithmetik, die in allen Variationen Gültigkeit besitzt, gelten in der einen Spielart von Mathematik Aussagen, die in der anderen als falsch verworfen werden, und umgekehrt. Aber jede der verschiedenen Lesarten von Mathematik ist, wenn man sich auf sie einlässt, widerspruchsfrei. Bei der Wahl der jeweiligen Variante ist man völlig frei. Schon Cantor schien dies geahnt zu haben, als er das eigenartige Wort prägte: „Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit.“
Es ist eine Freiheit, die das Gefühl von Allmacht wachruft.
Eine Allmacht, die Gödel bedrückte. Denn er war überzeugt, dass all das, was widerspruchsfrei ist, tatsächlich existiert, buchstäblich manifest vorhanden ist. Nicht bloß abstrakt, in Gedanken, sondern konkret, in der handgreiflichen Wirklichkeit. Dass es eine unermessliche Vielzahl von in sich widerspruchsfreien „Welten“ gibt; ein „Multiversum“, das myriadenfach vielfältiger ist als jenes der ohnehin höchst spekulativen Kosmologie. Jedes der unendlich vielen widerspruchsfreien mathematischen Systeme beherrscht je eine dieser Welten. Und weil Gödel von all diesen unzähligen Welten wusste, waren sie in seinem Bewusstsein ineinander verschränkt. Jede von ihnen ist vorhanden, wenn man sich in ihr bewegt, und sogleich verschwunden, wenn man zu einer anderen wechselt. Sie sind wie Spukgestalten.
Gödel, der größte Logiker des 20. Jahrhunderts, glaubte ernsthaft an Gespenster.
Dementsprechend bizarr verlief sein Leben: Ständig war er von der Angst verfolgt, sein schwaches Herz könne plötzlich stillstehen, sein Essen könne ihm schaden, die Nerven könnten versagen. Den Ärzten mit ihren
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