Die Zahl
er das Haus hätte teilen müssen.
Die alten Holzstufen knarrten unter dem Gewicht des Polizisten. Oben angelangt wartete Morell vor der Küche auf Frau Schubert, die die Treppe noch langsamer hinaufgegangen war als er. »Da sind wir schon«, sagte er und schielte wehmütig zu der Tür, hinter der sich sein Schlafzimmer befand. Wie gerne hätte er noch eine Stunde oder zwei in seinem großen, weichen Bett verbracht.
Das Keuchen seines ungebetenen Gastes holte Morell in die Realität zurück und ließ seinen Blick wieder in die Küche wandern. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »aber ich war nicht auf Besuch eingestellt – ich werde Ihnen Platz machen.« Um einen großen Esstisch aus hellem Kiefernholz herum standen vier Stühle. Drei davon waren mit Kochbüchern und Küchenutensilien vollgeräumt, auf dem vierten lag Fred, der Kater des Inspektors, der, was das Thema Fettleibigkeit betraf, ganz nach seinem Besitzer kam.
Während Morell noch versuchte einen Stuhl freizuräumen, setzte sich Agnes Schubert einfach auf den Boden.
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar«, sagte sie und wischte sich ein paar schmutzige Strähnen aus dem Gesicht. Sie sagte ständig »Herr Kommissar« zu ihm, was schlicht und ergreifend falsch war. Es gab die Bezeichnung »Kommissar« bei der österreichischen Polizei überhaupt nicht, was für Frau Schubert, die anscheinend zu viele schlechte Krimis gelesen hatte, aber kein Hindernis darstellte, ihn trotzdem so zu nennen. Irgendwann hatte Morell es aufgegeben, sie zu korrigieren.
Agnes Schubert blickte zu dem massigen Mann hoch, der vor ihr stand, und holte tief Luft. Morell wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie schwieg.
»Sieht so aus, als hätte sich Ihr Frühstück wieder von Ihnen verabschiedet«, versuchte Morell ziemlich unbeholfen das Schweigen zu brechen. »Ich kann Ihnen einen Toast machen, wenn Sie wollen.«
Frau Schubert verzog ihr Gesicht zu etwas, das Morell als Lächeln interpretierte. Anscheinend war seine Deutung aber falsch, denn das Häuflein Elend, das da mitten in seiner Küche auf dem Boden saß, begann zu schluchzen. Das Geräusch, das sie dabei von sich gab, klang wie ein leises Röcheln. Es erinnerte ihn an Fred, der oft versuchte, die Haare, die er beim Putzen seines Fells verschluckt hatte, wieder hochzuwürgen. Chefinspektor Otto Morell stand angesichts des heulenden Quälgeistes ratlos vor dem Toaster. Er war noch nie sehr gut im Umgang mit Frauen gewesen. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, sagte er einfach nichts und wartete.
»Sie müssen zur Kirche kommen!«, stammelte Frau Schubert, als sie sich wieder ein wenig gefangen hatte. »Am besten jetzt gleich.« Sie versuchte aufzustehen. Morell streckte seine Hand aus, um ihr dabei zu helfen. Als er merkte, wie sehr sie zitterte, verspürte er das erste Mal an diesem Morgen ernsthafte Besorgnis.
Wenn er später an diesen unheilvollen Tag zurückdachte, war es nicht das Sturmläuten von Agnes Schubert und auch nicht das Erbrochene in ihren Haaren, sondern es war ihre zitternde Hand, an die er sich zuerst erinnerte.
Vor einigen Jahren hatte Agnes Schubert die Stelle als Küsterin in der Pfarrgemeinde St. Peter und Paul angenommen, weil sie verliebt in den neuen Kaplan gewesen war. Zwar scheiterten all ihre Versuche, den Gottesmann von den Freuden eines weltlichen Lebens zu überzeugen, aber sie behielt den Posten trotzdem. Die Vorteile, die man als rechte Hand des Gemeindepfarrers und Herrin über die Kirche hatte, waren nicht zu unterschätzen. Sie hatte Zugriff auf die Tauf-, Heirats- und Sterbebücher, konnte sich heimlich am Messwein bedienen, die Protokolle des Pfarrgemeinderates lesen, und hie und da schaffte sie es, unter dem Vorwand, die alten Kirchenbänke mit Möbelpolitur einzulassen, einige Wortfetzen aus dem Beichtstuhl zu erhaschen. Nicht umsonst war Agnes Schubert als eine zuverlässige Quelle des Dorfklatsches bekannt.
»Was ist denn in der Kirche?«, fragte Morell.
»Nicht
in
der Kirche«, antwortete Frau Schubert. »Hinter der Kirche. Am Baugerüst.« Sie holte tief Luft. »Können wir jetzt gehen?«, flüsterte sie.
»Das beantwortet meine Frage nicht«, hakte Morell nach. »Was ist denn nun hinter der Kirche?«
»Das Grauen!« Frau Schuberts Stimme überschlug sich und brach.» Ich ... ich kann und will es nicht beschreiben. Sie müssen es selbst sehen!«
Morell versuchte, das flaue Gefühl, das sich in seinem Magen breitmachte, zu unterdrücken, indem er sich ins
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