Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
N ew York, New York
I ch bin in New York City geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens in oder bei New York gelebt. Manche Viertel sind für mich, auch wenn sie sich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, mit den Gefühlen längst vergangener Ereignisse aufgeladen – zumindest immer dann, wenn ich sie durchquere.
Es kommt mir vor, als hätte ich hundert Jahre lang wechselnden Vermietern für die unterschiedlichsten Wohnungen in verschiedenen Teilen der Stadt Miete gezahlt. Zu jener Zeit suchte ich immer nach Möglichkeiten, New York zu entkommen, denn ich stellte mir vor, wenn ich nur den richtigen Ort finden könnte, würden die Probleme des Lebens verschwinden.
Ich erinnere mich, daß ich New York als Ganzes zum ersten Mal vom Deck des Dayliners erblickte, des Linienschiffes auf dem Hudson River; ich war etwa vier oder fünf Jahre alt. Vielleicht fand ich die Ansicht des Riverside Drive bedrückend, denn ich entsinne mich, daß ich mich schon bald dicht an die Reling stellte, von wo ich den Musikern der Kapelle zwei Decks tiefer auf die Köpfe schauen konnte, die auf Klappstühlen saßen und zur Erheiterung der Passagiere «Hail Columbia!» spielten. Siebzehn Jahre später, im Jahr 1946, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sah ich die Stadt wieder von außen – diesmal vom Deck eines teilweise umgebauten Frachtschiffes für militärische Transporte, mit dem ich nach Europa fuhr. Endlich konnte ich fliehen!
Inzwischen hatte ich New York gründlich kennengelernt, wie man eine Stadt eben kennt, wenn man Jobs annehmen muß, die meistens ziemlich furchtbar sind, einen aber einigermaßen ernähren und über Wasser halten. Egal, wie die Umstände waren, ich fand es immer schwierig, in der Stadt zu leben. Doch gab es lebhafte und vielversprechende, sogar glamouröse Augenblicke. Es ist erstaunlich, sich daran zu erinnern. Wie schrieb Cesare Pavese in seinem Tagebuch Das Handwerk des Lebens : «Echtes Erstaunen entspringt der Erinnerung …»
In meinen Jugendtagen liefen Menschen durch die Stadt, deren Namen heute zum Teil bereits auf berühmten Grabsteinen stehen, und man konnte ihnen überall begegnen. Ich traf Duke Ellington auf einer Marmortreppe vor der Ausstellung des Malers Stuart Davis. Ich hörte Huddie (Leadbelly) Ledbetter auf einer Party im Greenwich Village, deren politischen Anlaß ich vergessen habe, «The Midnight Special» zur Gitarre singen. In einem Jazzclub auf der 52 nd Street, der Kelly’s Stable hieß, glaube ich, drehte sich Billie Holiday an der Theke um, als ich an ihrem Barhocker vorbeiging, und bat mich – «Schätzchen, wärst du so nett?» –, ihren Pelzmantel aufzuheben, der ihr von den Schultern geglitten war.
Später am selben Abend wurden die Türen des Clubs geschlossen, und ich gehörte zu den Menschen, die drin blieben, um einen Tisch saßen, und sie bis tief in die Nacht singen hörten. Ich wurde von einem Freund in den Savoy-Ballroom in Harlem ausgeführt. Dort sah ich den Tänzern zu, die sich – zur Musik zweier Tanzkapellen, geleitet von Cootie Williams und Lucky Millender – bogen und verrenkten, ihre Partner in die Luft wirbelten und sie wundersamerweise wieder auffingen, und wurde schließlich selbst auf die Tanzfläche gezogen, wo ich mich fragte, wann der Boden wohl unter uns nachgeben würde, bis ich mich schließlich nicht länger darum scherte. Von der Charles Street, wo ich eine Zeitlang auf Pump in einer Einzimmerwohnung gelebt hatte, mußte ich nur zwei Straßen bis zu einer Bar an der Seventh Avenue laufen, um für den Preis eines Glases Bier – zehn Cent – Art Tatum Klavier spielen zu hören.
Eines Abends ging ich ins Lewisohn Stadium, um Paul Robeson singen zu hören. Über unseren Köpfen flogen Flugzeuge, Suchscheinwerfer durchschnitten den Nachthimmel. Ganz unvermittelt betrat Robeson in einem marineblauen Anzug die Bühne. Er war eine so prachtvolle Erscheinung, sein tiefer Baß so majestätisch, daß sich die Zuschauer, und ich mich mit ihnen, durch ihn erhoben fühlten.
Nach diesem Konzert traf ich ihn noch zweimal, einmal in San Francisco, wo er den Othello gab, und ein zweites Mal in New York City, ein paar Wochen nach meiner Rückkehr aus Europa.
Die Erinnerung setzt oft mitten in einer Geschichte ein. Ich hatte einen Freund, der mit Robeson befreundet war. Robeson traf sich mit seinem Sohn Pauli, der von seiner Privatschule irgendwo im Norden, in der er sich aufs College vorbereitete, in die Stadt gekommen
Weitere Kostenlose Bücher