Die Zarentochter
Ohr. Olly hörte seine Worte und hatte das Gefühl, immer tiefer in Trance zu fallen.
Irgendjemand – Anna oder Mary – raunte ihr zu, dass es nun losging. Olly setzte einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt klimperten die diamantbesetzten goldenen Armbänder, wisperten ihre Perlenstränge und raschelte der Stoff ihrer bodenlangen Robe. Obwohl die Schleppenträger eifrig bemüht waren, ihr Schritttempo dem der Braut anzupassen, wurde Olly vom Gewicht der langen Schleppe stetig nach hinten gezogen. Sie spürte, wie sich ihre Na ckenmuskelnverspannten und leichtes Kopfweh einsetzte. Nicht auch das noch.
Als sie die Treppe erreichte, blieb sie so abrupt stehen, dass einer der vorderen Schleppenträger fast über sie gestolpert wäre. Erschrocken wich der Mann zurück, während sich Olly fragte, wie sie ins Erdgeschoss kommen sollte, ohne sich das Genick zu brechen.
Mary und Cerise schauten sich wissend an, Olly glaubte auf Marys Gesicht einen Hauch von Schadenfreude zu sehen.
»Eine Stufe nach der anderen, das wird schon!«, sagte die Zarin streng. »Und ihr zwei hört auf zu kichern. Euch ist es einst keinen Deut besser ergangen.«
»Eben«, murmelte Mary.
Als hätte die ältere Schwester einen Zauberspruch gesprochen, lichtete sich der Nebel in Ollys Kopf urplötzlich. Sie straffte ihre Schultern, wies die Schleppenträger an, den Stoff etwas höher zu halten, dann atmete sie noch ein letztes Mal tief durch. Wenn Mary – und viele Romanow-Frauen vor ihr – es geschafft hatten, in dieser Aufmachung vor dem Traualtar zu erscheinen, dann würde sie nicht die erste sein, die zuvor in Ohnmacht fiel oder sich ein Bein brach.
Im Erdgeschoss angekommen, führte ihr Weg sie durchs Blaue Empfangszimmer hinein in den Tschesme-Saal. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, jeder in ihrem Gefolge könne es hören. Gleich würde sie ihn sehen. Ihren Karl. Ihren Bräutigam.
Er wartete in der Mitte des Thronsaals auf sie. Das durch beide Fensterreihen hereinfallende Sonnenlicht umstrahlte ihn wie eine besonders wertvolle Ikone. Die goldenen Epauletten seiner Garde uniform blitzten mit seinen Augen um die Wette. Ehrfürchtig schaute er sie an.
»Olga, wie schön du bist …«
Lächelnd legte sie ihre rechte Hand auf seinen linken Arm.
Gemeinsam durchschritten sie den Audienzsaal, den Porträtsaal, kamen durch den großen Konzertsaal in die lange Galerie, von wo aus sie schließlich in die Palastkirche gelangen würden. Hatte sich Olly zuvor gefühlt, als sei sie von dichtem Nebel umgeben, so nahm sie nun jedes Detail umso deutlicher war: die gerührten Mienen der Gäste,die ihren langen Weg säumten. Die vielen mit duftenden Blumen gefüllten Prunkvasen. Der Teppich aus Rosenblättern, über den sie im Porträtsaal schritten – war dies Annas Idee gewesen? Die Kronleuchter mit Aberhunderten brennender Kerzen. Karl, der königlich aufrecht neben ihr ging. Sein Arm, der sicheren Halt bot. Am Eingang zur Schlosskirche hielt Olly inne. Sie holte tief Luft, dann sagte sie mit fester Stimme:
»Es ist so weit. Lass uns vor Gott treten.«
Die Peterhofer Schlosskirche übertraf alles, was Friedrich Hackländer bisher an Prunk gesehen hatte: Gold und Silber an den Wänden, farbige Ikonen, eingefasst in Edelsteine, dazu Marmor in verschiedenen Farben.
Ließ er seinen Blick über die Gäste schweifen, erging es ihm nicht anders. Die Männer in Festuniformen, die Frauen in wertvollen Roben – von dem Geld, das für diese Gewänder ausgegeben worden war, hätte man sämtliche russischen Notleidenden – und die von Württemberg noch dazu – satt bekommen.
Wenigstens musste man sich für Prinz Karl von Württemberg nicht schämen: In seiner dunkelblauen Uniform mit den vielen Orden an der Brust gab auch er ein stattliches Bild ab. Dazu hielt er sich königlich aufrecht. Ja, er durfte wirklich stolz auf seinen Zögling sein, befand Hackländer. Er und Olga waren ein schönes Paar. Wie schade, dass der König dies nicht miterleben konnte. Da sein Gesundheitszustand eine so weite Reise nicht erlaubte, hatte er den Prinzen von Hohenlohe-Öhringen als seinen Vertreter geschickt, der gerade hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen zu unterdrücken versuchte. König Wilhelm hätte die langwierige Hochzeitszeremonie auch einiges an Geduld abverlangt, vielleicht war es ganz gut, dass er nicht zugegen war. Selbst Hackländer, der an fremdem Brauchtum sehr interessiert war, fand die Liturgien, Rituale und Gesänge nach fast zwei
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