Die Zarentochter
großzügige Geste, in der Tat. Aber wenn ich anmerken darf: Die Freude über die Ankunft von Großfürstin Olga wäre auch ohne Brezeln allerorts riesengroß gewesen. Schulkinder, Winzer, Bauern, die Neckarfischer und die Handwerkszünfte – alle wollten unbedingt ihren Beitrag zu diesem Freudentag leisten. Auf jedem freien Fleck in der Stadt werden Musikkapellen spielen, es wird Aufführungen von Trachtengruppen geben, Tänze und Gesang. Viele Menschen sind extra für diesen Tag von weit her angereist!« Gortschakoffs Augen glänzten vor Begeisterung, während er sprach. Seine Hände fuchtelten wild, als wolle er jede Aussage noch unterstreichen.
Ollyschmunzelte. Mit jedem Wort strahlte er Kraft und Energie aus. Dass er zudem über einen klugen Kopf, über politisches Gespür und ein gutes Urteilsvermögen verfügte, wusste sie aus ihrem Briefwechsel der vergangenen Wochen. Kein Wunder, dass der Zar ausgerechnet ihm einst diesen wichtigen Posten in Stuttgart übertragen hatte. Fürst Gortschakoff würde ihr ein wertvoller Berater sein, dachte Olly frohen Herzens, während sie seinen weiteren Ausführungen lauschte.
Nach dem Festumzug war ein großes Diner im Kreis der königlichen Familie eingeplant, am darauffolgenden Tag würde Karl und ihr die Ehre gebühren, das Cannstatter Volksfest zu eröffnen – eine große Feier zu Ehren der Bauern. Auf dem Programm stand auch ein Festakt zur Eröffnung einer Bahnstrecke von Stuttgart in einen Vorort. Und ein Pferderennen zu ihren Ehren. Für den letzten Tag der Feierlichkeiten habe der König eine große Überraschung eingeplant. Außerdem –
An dieser Stelle hatte Olly ihren russischen Landsmann unterbrochen. »Mir scheint, uns steht ein endloser Reigen an Festen bevor. Ist auch ein Besuch in unserer zukünftigen Villa geplant? Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie weit die Bauarbeiten fortgeschritten sind.«
Noch während sie sprach, fuhr Karls Kopf nervös herum. Hackländer und Gortschakoff wechselten einen Blick, den Olly nicht deuten konnte. Sie lachte irritiert.
»Was ist? So ungewöhnlich ist mein Anliegen doch gar nicht, oder?«
»Ich verstehe Ihre Neugier«, hatte Gortschakoff gesagt. »Aber der Hausbau läuft Ihnen nicht davon. Nun sollten Sie sich erst einmal an den Festlichkeiten erfreuen.«
Karl und Hackländer hatten heftig genickt.
Durchs halbgeöffnete Fenster waren nun schon die ersten Sonnenstrahlen zu sehen, die Luft war erfüllt vom Duft nach reifen Äpfeln, nach Birnen und Trauben. Der heutige Tag würde strahlend schön werden.
Ollys Anspannung ließ ein wenig nach. Gortschakoff hatte recht.
DerAlltag kehrte bald genug ein – zuvor galt es, jede Minute der Feierlichkeiten zu genießen.
Sieben Uhr. Bald würde eine der Zofen kommen und ihr beim Ankleiden helfen. Sehnsüchtig schaute Olly in Richtung Tür. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Karl zu ihr käme. Und ihr eine Tasse Tee ans Bett brächte, so wie er es während ihrer Reise schon des Öfteren gemacht hatte. Ihr Karl … Er war so rücksichtsvoll. Und so besorgt um sie. Er war ein unruhiger Schläfer, der teils im Schlaf sprach, manchmal sogar um sich schlug. Um nur ja nicht ihre Nachtruhe zu stören, hatte er daher vorgeschlagen, dass sie während der Reise in getrennten Zimmern übernachten sollten. Spätestens in Stuttgart würden sie dann wieder ein gemeinsames Schlafzimmer beziehen.
Olly, die sich die Reise in die neue Heimat nicht so anstrengend vorgestellt hatte, genoss zwar ihre nächtliche Ruhe einerseits. Andererseits konnte sie es kaum erwarten, endlich wieder an Karl geschmiegt einzuschlafen.
»Schon wach, Schwesterherz?« Die Tür wurde aufgerissen, die Vision einer heißen Tasse Tee löste sich vor Ollys innerem Auge in Luft auf.
»Kosty! Bist du verrückt, hier so einfach hereinzustürmen?«
Der Neunzehnjährige winkte gleichgültig ab. »Ich wusste ja, dass du allein bist. Deine Zofen sitzen in der Küche und trinken heiße Schokolade. Und Karl läuft unten im Salon wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Als ich ihn ansprach, nahm er mich kaum zur Kenntnis. Kann es sein, dass dein Gatte ein wenig aufgeregt ist?«
Spielerisch schlug Olly nach ihrem Bruder, der sich zu ihr ans Bett gesetzt hatte. »Du weißt ganz genau, dass Karl und ich beim Gedanken an unseren Einzug in Stuttgart vor Aufregung fast sterben.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass dich jemand auf andere Gedanken bringt. Los, zieh dich an. Ich möchte dir etwas zeigen, das glaubst du nicht, bevor
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