Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
aber das kam bei einem Mädchen natürlich nicht infrage. Zweifellos würde auch Ida in knapp einem Jahr die Klasse verlassen.
Jetzt jedoch konnte sie noch vom Unterricht profitieren – und gleichzeitig etwas Glanz in Brakels langweiligen Alltag bringen. Brakel war mit Leib und Seele Lehrer. Schüler wie Karl und Ida machten ihn glücklich, während es keinen so großen Spaß machte, die tumben und am Lesen und Schreiben wenig interessierten Bauernkinder zu unterrichten. Manchmal hatte er das Gefühl, sein einziger Erfolg bestünde darin, sie während des Unterrichts wach zu halten.
»Du hast uns ein neues Buch mitgebracht, Ida … äh … Anton?«
Auf dem Pult des ältesten Lange-Sohnes lag ein schmales Büchlein. Die Reisen des Kapitän Cook. Der Junge sah nicht aus, als hegte er größeres Interesse daran, Ida hatte dem Lehrer allerdings schon beim Kirchgang am Tag zuvor aufgeregt erzählt, ihr Vater habe ein neues Buch aus Schwerin mitgebracht. Das kam gelegentlich vor. Jakob Lange interessierte sich für exotische Länder und versuchte, dies auch seinen Söhnen nahezubringen. Seine Haltung war ungewöhnlich für einen Handwerker und obendrein strengen Altlutheraner, aber Brakel nahm an, dass Lange mitunter an Auswanderung dachte. Der Schmied und anerkannte Pferdekenner war sicher nicht zufrieden damit, sein Land hier im Dorf nicht erwerben, sondern lediglich als Erbpacht nutzen zu können. Er legte sich deshalb ständig mit dem Junker an, irgendwann würde der ihn noch hinauswerfen, egal, wie sehr er seine Arbeit schätzte. In den letzten Jahrzehnten waren viele Altlutheraner nach Amerika gegangen. Möglicherweise plante Lange langfristig Ähnliches.
Anton, sein Sohn, nickte jetzt gelangweilt und schob das Buch zu Ida hinüber. Aber das Mädchen griff nicht so begierig danach, um es der Klasse vorzustellen, wie es von ihm zu erwarten gewesen wäre, sondern schaute zu Karl hinüber, der sich kaum von seinem Pult trennen konnte. Die Erwähnung des Buches hatte sein Interesse geweckt. Und er selbst anscheinend Idas Mitgefühl.
»Ida!«, mahnte Brakel.
Das Mädchen fasste sich und schaute auf. »Es ist ein seltsames Buch!«, erklärte es dann mit seiner sanften, weichen Stimme, die selbst die größten Schlafmützen zu fesseln vermochte, wenn Ida vorlas. »Es geht um einen Kapitän, der zur See fährt und fremde Länder entdeckt! Und denken Sie sich, Herr Lehrer, es wurde in einer anderen Sprache geschrieben! Damit wir es lesen können, musste es erst über… übersetzt werden!« Ida wies auf den Namen des Autors, eines Mannes namens John Hawkesworth.
»Aus dem Griechischen?« Das war Karls Stimme.
Der Junge konnte sich nicht bezähmen. Er hätte längst gehen sollen, aber das neue Buch erinnerte ihn an andere Seefahrergeschichten, die Lehrer Brakel seinen Schülern einmal erzählt hatte. Darin war es um einen Mann namens Odysseus gegangen, der im alten Griechenland haarsträubende Abenteuer erlebt hatte.
Brakel schüttelte den Kopf. »Nein, Karl. John Hawkesworth hat Kapitän Cooks Geschichte auf Englisch niedergeschrieben. Und es ist auch keine Sage, wie die Odyssee, sondern ein Tatsachenbericht. Aber jetzt entscheide dich mal, Karl. Wenn du bleiben willst, setz dich. Ansonsten …«
Karl ging zur Tür. Sein letzter Blick auf die Klasse schwankte zwischen Bedauern und Neid – und wurde fast zärtlich, als er Ida streifte. Er mochte sie. Manchmal, wenn er auf den Feldern arbeitete und seine Gedanken schweifen ließ, erlaubte er sich eine Art Tagtraum. Er sah sich dann als jungen Mann um Ida Lange werben, einen Hausstand mit ihr gründen und jeden Abend, den Gott werden ließ, zu ihr heimkehren und von ihr erwartet werden. Jeden Tag hörte er diese sanfte Stimme, jeden Morgen fiel sein erster Blick auf ihr glattes, weiches Haar und ihr schönes, zartes Gesicht. Mitunter regten sich dann auch sündige Gedanken in ihm, aber die verbot Karl sich streng. Und eigentlich hätte er sich auch die harmloseren Träume von einer Zukunft mit dem Mädchen verbieten müssen. Schließlich konnten sie niemals wahr werden. Selbst wenn Ida seine Zuneigung irgendwann erwidern sollte – und es gab keinen Anlass anzunehmen, dass dies je der Fall sein könnte –, so würde ihr Vater doch niemals einer Verbindung mit dem Sohn eines Tagelöhners zustimmen. Verständlicherweise, Karl hegte da gar keinen Groll gegen Jakob Lange. Er hätte es Ida ja selbst nicht zumuten wollen, so zu leben wie seine Mutter.
Die Familie
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