Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
von einem Tagelöhner bei der Arbeit erwartete. »Was … was willst du?«
Er hoffte, dass es nicht unhöflich klang. Eigentlich hätte er gern mit Ida gesprochen. Aber dann hätte sie ihm womöglich angesehen … dann hätte sie vielleicht bemerkt, dass er Tränen in den Augen hatte …
Ida hielt ihm etwas entgegen. »Hier«, sagte sie. »Du hast dein Heft vergessen.«
Karl machte keine Anstalten, sich zu nähern und ihr das Schulheft abzunehmen. Tatsächlich hatte er es nicht vergessen, es gehörte zu den Heften mit einer Hausaufgabe, die Lehrer Brakel vor den Kartoffelferien eingesammelt hatte. Es hatte mit den anderen Heften auf dem Pult gelegen, aber Karl hatte sich nicht getraut, den Lehrer danach zu fragen. Dabei hütete er sein Heft eigentlich wie eine Kostbarkeit. Er hatte nie ein eigenes besessen, bevor Lehrer Brakel ihm dieses im letzten Jahr geschenkt hatte.
»Du hast eine Eins bekommen«, fuhr Ida fort. »Es war die beste Arbeit …«
Karl konnte nun doch nicht widerstehen. Wenigstens einmal noch das »Sehr gut« in Lehrer Brakels gestochen klarer Schrift sehen, die rote Tinte … Er trat näher, nahm dabei die Mütze ab und fuhr sich dann unwillkürlich durch seinen Schopf wirrer blonder Haare. Vor der Schule hatte er seine Locken mit Wasser geglättet, doch eben zerzauste der Wind sie. Kein Aufzug, in dem man dem Mädchen entgegentrat, um das man in seinen Träumen warb – Karl schämte sich ebenso seines fadenscheinigen Hemdes und seiner schmutzigen weiten Arbeitshosen.
Ida gab ihm das Heft. Sie sah hübsch aus in ihrem dunklen Kleid und der weißen Hängeschürze. Auch dies einfache Kleidung, aber doch sauber und nicht so verschlissen. Ida, die keine älteren Schwestern hatte, deren Sachen sie auftragen musste, erhielt mitunter sogar ganz neue Kleider.
»Ich hab dem Lehrer gesagt, ich bring’s dir mit«, sagte das Mädchen, als Karl das Heft aufschlug. »Ich …«
Ida wollte noch mehr sagen, aber sie konnte Karl kaum gestehen, dass sie nach der Schule getrödelt und gewartet hatte, bis die anderen Schüler fort waren. Dann hatte sie den Lehrer nach Karls Heft gefragt.
»Ich brauch’s doch nicht mehr«, meinte der Junge mit erstickter Stimme. »Du hättest es lassen können.«
Ida spielte mit einem ihrer fast hüftlangen Zöpfe. »Ich hätt’s haben wollen«, erklärte sie dann mit unglücklichem Gesichtsausdruck.
Karl wurde schlagartig klar, dass Ida ihn sehr gut verstand. Auch sie ging gern zur Schule, und auch für sie gab es keine Hoffnung, länger als bis zu ihrem dreizehnten Geburtstag lernen zu dürfen.
Karl konnte nicht anders, auf sein Gesicht stahl sich nun doch ein Lächeln. »Ich hab’s nicht so gemeint«, murmelte er. »Ich … danke, ich … wollte es auch haben.«
Ida schlug die Augen nieder. »Es tut mir leid«, sagte sie.
Karl zuckte die Schultern. »Es ist nicht zu ändern«, erwiderte er. »Aber … aber die Geschichte von Kapitän Cook … die hätte ich gern noch gehört.«
In Idas Gesicht ging ein Leuchten auf. Ihre hellen Augen strahlten. »O ja, das ist eine großartige Geschichte!«, begann sie und zog Karl sofort mit ihrer singenden Stimme in ihren Bann. »Denk dir, da gab es eine Gesellschaft in England, eine Gesellschaft von Gelehrten, die stattete ein Schiff aus, um damit in die Südsee zu segeln und die Sterne zu beobachten! Die Sterne, kannst du dir das vorstellen? Dafür gaben sie so viel Geld aus!«
»Die Sterne kann man doch auch von hier aus sehen«, bemerkte Karl. »Wozu muss man dazu in die Südsee?«
»Da leuchten sie wohl heller«, meinte Ida. »Und man sieht sicher auch andere – auf der anderen Seite der Weltkugel … Aber das war noch nicht alles! Der Kapitän hatte noch einen weiteren Auftrag, einen geheimen! Man nahm an, es gäbe neues Land, ganz unbekanntes Land da am anderen Ende der Welt, und das sollte er erkunden. Mit ihm reisten Pflanzen- und Tierforscher … Oh, man möchte kaum glauben, was für seltsame Tiere sie da entdeckt haben! Und wie gefährlich die Reise war …«
Während Ida berichtete, zeichneten ihre schmalen, von der Gartenarbeit schwieligen Hände all die Wunder in die Luft. Karl beobachtete dies fasziniert und lachte und staunte mit ihr, während sie riesige Hasen beschrieb, die von den Eingeborenen dieses neuen Landes Kängurus genannt wurden, und bunte Fische, die gewaltige, wunderschöne, aber auch gefährliche Riffe bevölkerten.
Beide vergaßen sie dabei sowohl die Zeit als auch das
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