Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)
Boden; woraufhin Maramir sich sofort schützend dazwischen warf.
„Siehst du nicht, daß sie Angst vor dir hat?“, schrie sie Kar verzweifelt an. - „Und ich fürchte mich auch!“
Endlich wich Kar empfindlich getroffen zurück.
„Ihr versteht nicht“, sagte sie in plötzlich ruhigem Ton, und dann schwieg sie eine ganze Weile. Den Tränen nahe, betrachtete Kar die beiden jüngeren Frauen. Alle Verantwortung lastete auf ihr.
„Leikika“, fuhr sie nach einiger Zeit mit ruhiger Stimme fort, „unsere Wunden werden heilen. Jetzt müssen wir stark sein, für unsere Ahnen und unseren Stamm. - Das Spitzgesicht ist fort; wir haben Fleisch, Waffen und Kleidung. Wir können zurückgehen und die Toten bestatten! Leinocka“, sagte Kar jetzt mit fester Stimme zu Maramir, „haben die Ahnen zu uns gebracht. Nur die Ahnen können ihre Seele erblicken und erkennen, welches Tier in ihr wohnt. Vielleicht ist es ein Wolf – ein schwacher, ängstlicher Wolf.“ Kar holte tief Luft. „Sie kam zu uns als Fremde, die nicht viel Achtung verdient hatte, aber die Ahnen haben sie gerettet ...“
Jetzt wandte sich Maramir Leinocka zu. Aber noch bevor sie etwas sagen konnte, spürte sie etwas Eigenartiges, das sie in dem Augenblick weder erkennen noch benennen konnte; so als hätte sich plötzlich irgendetwas Bedeutendes verändert, ohne daß sie es bemerkt hatte.
„Hast du nicht gehört? - In dir wohnt vielleicht die Seele eines Wolfes!“, sagte sie und musterte unterdessen Leinockas Ausdruck.
Leinocka aber kauerte am Boden und starrte wie gebannt auf die Leichen.
Ernst betrachtete Kar das verstörte Mädchen.
„Die Ahnen rufen sie!“
„Vielleicht ist sie auch nur schlimm verwirrt“, entgegnete Maramir und streichelte zärtlich Leinockas Wangen – aber deren Augen starrten ins Leere.
„Es ist deine Schuld, Leikika! Hättest du nur auf mich gehört! Ich habe dir gesagt, die Ahnen wollen, daß Leinocka zu ihnen geht.“
Unter wütendem Schnauben krallte Kar ihre Hand in den Schnee. Dann schnellte sie hoch und stapfte zu den Leichen.
Sanft nahm Maramir Leinockas Gesicht in ihre Hände. Mittlerweile schneite es nicht mehr, und der Himmel hellte ein wenig auf.
„Sieh mich doch an! - Die Ahnen stehen uns bei, sie haben uns ein Geschenk gemacht. Wir können uns satt essen, und wir werden unser eigenes Feuer haben!“
Maramir hoffte auf einen Funken in Leinockas Augen, den Anflug eines Lächelns; stattdessen wies ihr starrer Blick in die Richtung der Toten, an denen Kar sich zu schaffen machte.
-
Die junge Nacht, mondlos, klar und kalt, überzog die Welt mit Dunkelheit, in der eine unheimliche Stille wohnte. Vor ihren doppelt in Fell gewickelten Füßen prasselte ein spärliches Feuer. Über der Glut einer zweiten Feuerstelle dampfte im Magen eines Toten ein Sud aus geschmolzenem Schnee, Baumrinde und vergorenen Beeren.
„Leinocka ist wie ein Kind“, flüsterte Kar, „und du verhältst dich wie eine Mutter. Den ganzen Tag hast du sie geführt. Du hältst sie warm und versuchst sie zu füttern! Ich muß zuviel tragen! Meine Kraft wird nachlassen – und wir werden alle sterben! Ich sage, wir überlassen sie den Ahnen.“
Maramir schwieg eine Weile, bevor sie antwortete: „Dann wache ich heute Nacht, damit du schlafen kannst. Wir brauchen deine Kraft!“
„Was soll das, Leikika?“
Kar spuckte verächtlich in den Schnee zwischen ihren Füßen.
„Außerdem wirst du einschlafen und das Feuer wird ausgehen. Vielleicht kommt eine mächtige Mähnenkatze ...“
„Oder die Wölfe“, fiel Maramir ihrer Schwester ins Wort.
„Wenn die Ahnen kommen, dann um Leinocka zu sich zu holen!“
„Ich werde wach bleiben!“
„Leikika, die Ahnen ...“
„ ... haben Hunger!“, fiel ihr Maramir erneut ins Wort.
Kar sagte nichts darauf. Sie starrte nur ins Feuer. Dann zog sie unter ihrem Überwurf und der Felldecke, in die sie sich gehüllt hatte, die Beine an, legte ihre verschränkten Arme auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in den von dickem Fell bedeckten Armbeugen.
Eine Berührung an der Schulter weckte Maramir aus einem tauben Zustand völliger Gedankenleere. Als sie die Augen aufschlug, blickte sie geradewegs in Leinockas große, ängstliche Augen, in denen der Feuerschein glänzte. Blitzartig fuhr ihr ein Schreck in Mark und Bein. Sie war eingeschlafen!
„Das Feuer!“, schoß es ihr durch den Kopf. - Es brannte sicher. Jemand hatte frisches Holz aufgelegt. Ein flüchtiger Blick auf Kar – sie
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