Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
heraus.
»Hast du mich mit einem Zauber belegt, Mclora?«
Sie legte ihm die dicken Hände mit großer Zärtlichkeit um die Wangen und sah ihm gerade in die Augen. Auf der anderen Seite des Feuers sangen die Männer ein Rüpellied:
Es zogen einmal vierundzwanzig Leroni nach Ardcarran;
Jetzt macht von ihnen keine mehr Gebrauch von ihrem Laran …
»O nein, Bard«, sagte Melora sehr leise. »Es ist nur, daß wir uns berührt haben, du und ich. Wir sind ehrlich miteinander gewesen, und das ist etwas Seltenes zwischen einem Mann und einer Frau. Ich liebe dich sehr, und ich wünschte, die Umstände wären anders und wir wären heute abend an einem anderen Ort als hier.« Sie beugte sich vor und berührte seine Lippen ganz leicht mit den ihren, nicht mit Verlangen, sondern mit Zärtlichkeit, die ihm wärmer machte als die wildeste Leidenschaft. »Gute Nacht, mein lieber Freund.«
Er drückte ihr die Hand und ließ sie gehen, und er sah ihr mit einem Bedauern und einer Traurigkeit nach, die neu für ihn waren.
Die Karawanenleute kamen, besetzten jede Ecke, Da konnt man’s nicht mehr anders treiben als hängend von der Decke.
Es brachten einmal vierundzwanzig Bauern Säcke mit Nüssen, Die waren oben zugebunden, doch unten aufgerissen …
Beltran sagte hinter ihm: »Sie scheinen sich zu amüsieren. Sie singen da ein paar neue Strophen, die ich noch nicht gehört hatte.« Er lachte vor sich hin. »Dabei fällt mir ein, wie wir Schläge dafür bekamen, daß wir die schmutzigeren Verse dieses Liedes in Carlinas Schulheft schrieben.«
Bard war froh, an etwas anderes denken zu können. »Und du sagtest unserm Lehrer, das sei ein Beweis dafür, daß Mädchen nicht lesen lernen sollten.«
»Ich persönlich würde das Lesen gern den Frauen überlassen, die nichts Wichtigeres zu tun haben«, meinte Beltran. »Doch vermutlich werde ich Staatspapiere und solche Dinge unterschreiben müssen.« Er beugte sich über Bard. Sein Atem roch nach süßem Wein, und Bard merkte, daß der Junge vielleicht ein bißchen mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte. »Das ist der richtige Abend, um sich zu betrinken«, sagte Beltran.
»Was macht deine Wunde?«
Beltran lachte. »Ach was, Wunde! Mein Pferd rannte mit mir den Berg hinunter, und ich wurde im Sattel nach vorn geschleudert und schlug mit dem Gesicht auf das Sattelhorn. Davon bekam ich Nasenbluten, und deshalb kämpfte ich während der ganzen Schlacht mit blutüberströmtem Gesicht! Ich glaube, ich habe schreckenerregend ausgesehen.« Er zwängte sich unter Bards Zelt, dessen offenes Ende zum Feuer zeigte, und setzte sich dort nieder. Die Plane über ihnen hielt den Schnee ab. »Endlich scheint es sich aufzuklären.«
»Wir müssen feststellen, ob es unter den Männern welche gibt, die einiges Geschick im Wagenlenken und im Umgang mit Packtieren haben.«
Beltran antwortete mit einem gewaltigen Gähnen. »Jetzt ist das vorbei. Ich glaube, ich könnte zehn Tage lang schlafen. Horch, es wird früh still, aber die meisten Männer sind betrunken wie Mönche zu Mittwinter.«
»Was hättest du sonst von ihnen erwartet, wo keine Frauen da sind?« Beltran zuckte die Schultern. »Ich mißgönne ihnen ihren Rausch nicht. Unter uns, Bard, mir ist es so lieber … Nach der Schlacht von Snow Glen zerrte mich eine Gruppe der jüngeren Männer mit sich in ein Hurenhaus in der Stadt… « Er verzog angeekelt das Gesicht. »Ich finde keinen Geschmack an solchen Spielen.«
»Auch ich ziehe willige Gefährtinnen den bezahlten Damen vor«, stimmte Bard ihm zu. »Doch ich bezweifele, ob ich nach einer Schlacht wie dieser einen Unterschied merken würde.« In seinem Inneren wußte er, daß er nicht die Wahrheit sagte. Heute nacht wollte er Melora, und wenn er die Auswahl unter allen Kurtisanen Thendaras oder Carcosas gehabt hätte, wäre seine Wahl immer noch auf sie gefallen. Auch wenn er Carlina hätte haben können? Er hatte keine Lust, darüber nachzudenken. Carlina war seine ihm anverlobte Frau, und das war etwas anderes.
»Du hast nicht genug zu trinken gehabt, Pflegebruder.« Beltran reichte ihm eine Flasche. Bard setzte sie an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Der starke Wein tat ihm wohl. Er betäubte den Schmerz darüber, daß Mclora nach ihm ebenso verlangt hatte wie er nach ihr und daß er sie zu seinem eigenen Erstaunen hatte gehen lassen. Verachtete sie ihn jetzt, hielt sie ihn für einen grünen Jungen,
der sich fürchtete, einer Frau seinen Willen aufzuzwingen? Spielte sie mit ihm?
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