Die Zeit der hundert Königreiche
Überraschung bereitete ihm der Gedanke Schmerz. Sollte er niemals einen Freund, einen Bruder, einen ihm Gleichgestellten haben, dem er vertrauen konnte? Mußte er jeden Freund und Bruder verlieren, wie er Beltran und Geremy verloren hatte? Vielleicht fiel ihm doch noch eine andere Möglichkeit ein, vielleicht brauchte Paul nicht zu sterben.
Ich will ihn nicht verlieren, wie ich Melora verloren habe … Wütend gebot er sich Einhalt. Er wollte nicht wieder an Melora denken!
Plötzlich riß Melisandra an den Zügeln und hielt ihr Pferd an. Ihr Gesicht verzerrte sich, und gleichzeitig warf Meister Gareth die Hände hoch, als wolle er ein unsichtbares Übel abwehren. Eine Frau unter den Leroni schrie, einer der Männer würgte vor Entsetzen, beugte sich über seinen Sattel und klammerte sich, beinahe unfähig zu sitzen, instinktiv dort fest. Bard sah erstaunt und bestürzt zu ihnen hin. Paul drängte sein Pferd schnell an das Melisandras und stützte sie, die im Sattel schwankte. Sie war bleicher als der Schnee am Wegrand.
Sie achtete nicht auf ihn. »Oh … das Sterben, das Verbrennen!« rief sie, und ihre Stimme verriet namenloses Grauen. »Oh, diese Qual … Tod, Tod fällt vom Himmel … das Feuer … die Schreie …« Die Stimme erstarb ihr in der Kehle. Ihre Augäpfel rollten nach oben, daß nur noch das Weiße zu sehen war, als blicke sie auf ein schreckliches Bild in ihrem Innern.
Meister Gareth stieß hervor: »Mirella! Gute Götter, Mirella … sie ist dort …«
Das rief Melisandra in die Wirklichkeit zurück, aber nur für einen Augenblick. »Wir können nicht sicher sein, daß sie bereits dort eingetroffen war, lieber Vater. Ich … ich habe sie nicht schreien gehört, und ich bin sicher, ich hätte es erkannt, wenn sie dabeigewesen wäre … aber oh, das Brennen, das Brennen …« Von neuem schrie sie auf. Paul beugte sich zu ihr hinüber und umfaßte sie. Schluchzend ließ sie den Kopf an seine Brust sinken.
Er flüsterte: »Was ist das, Melisandra, was ist das …?« Aber sie war nicht fähig, ihm zu antworten. Sie konnte sich nur an ihn klammern und hilflos weinen. Auch Meister Gareth sah aus, als werde er gleich aus dem Sattel fallen. Bard wollte den alten Laranzu stützen, und als seine Hand ihn berührte, überfluteten die Bilder auch seinen Geist.
Lodernde Flammen. Sengender Schmerz, unerträgliche Pein, als das Feuer sich weiterfraß, verzehrte, zerriß … Mauern zerbröckelten und fielen … Stimmen erhoben sich zu Schreien der Qual, des Entsetzens, der wilden Klage … Luftwagen stürzten hernieder, Feuer und Tod regnete vom Himmel …
Paul war davon bisher unberührt geblieben, aber als sich Bards Geist den Bildern öffnete, sah und fühlte er sie auch, und er erbleichte vor Grauen. »Feuerbomben«, flüsterte er. Er hatte diese Welt für zivilisiert gehalten, für zu zivilisiert, um diese Art Krieg zu führen. Er hatte geglaubt, hier sei der Krieg eher ein Spiel, eine mannhafte Mutprobe, eine Sache der Herausforderung und Annahme des Kampfes. Aber dies …
Der Körper einer Frau loderte wie eine Fackel, der Geruch nach brennendem Haar, brennendem Fleisch, die Todesqual …
Bard mühte sich um den alten Mann, wie er es bei seinem eigenen Vater getan hätte. Ihm war übel von den entsetzlichen Bildern in seinen Gedanken. Aber irgendwie schaffte es Meister Gareth, sich von dem Grauen loszureißen. » Genug! « stieß er mit heiserer Stimme hervor. »Wir können ihnen nicht helfen, indem wir ihren Todeskampf teilen! Schirmt euch ab, ihr alle! Sofort!« Er sprach mit der Befehlsstimme, und plötzlich war die Luft um sie frei von Rauch und Gestank und Feuer. Die unerträglichen Schmerzensschreie waren verschwunden. Paul blickte benommen auf die friedliche Straße und die stillen Wolken über ihnen, vernahm die Hintergrundgeräusche einer marschierenden Armee. Irgendwo wieherte ein Pferd, Vorratswagen knarrten und rumpelten, ein Treiber verfluchte gutmütig seine Maultiere. Der unvermittelte Übergang ließ Paul blinzeln.
»Was war das? Was war das, Melisandra?« Er hielt sie immer noch in seinen Armen. Ein bißchen verlegen richtete sie sich auf.
»Hali«, antwortete sie. »Der große Turm am Ufer des Sees. Lord Hastur hatte geschworen, die Türme sollten neutral bleiben, zumindest Hali und Neskaya – ich weiß nicht, wer den Turm angegriffen hat.« Ihr Gesicht spiegelte immer noch das Grauen wider, das sie geteilt hatte. »Jeder Laranzu , jede Leronis in den Hundert Königreichen
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