Die Zeit der hundert Königreiche
Stammland der Serrais-Leute lag offen vor ihnen. Paul entdeckte, daß er instinktiv wußte, welches die beste Maßnahme war, um eine Stadt zu erobern oder eine Schar von Kriegern, die sich ihnen entgegenstellte, zu besiegen.
»Mein Vater sagte einmal«, erzählte ihm Bard, »mit zweien von meinem Schlag könnten wir die Hundert Königreiche erobern. Und verdammt noch mal, er hatte recht! Ich weiß jetzt, daß die Ähnlichkeit nicht nur hauttief geht. Du und ich, wir sind derselbe Mann, und wenn wir gleichzeitig zwei Armeen anführen können, wird dies ganze Land vor uns liegen wie eine Hure auf der Stadtmauer!« Lachend schlug er Paul auf die Schulter. »Es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben. Ein Königreich würde nicht Platz genug für uns beide bieten, aber hundert sollten für dich und für mich Raum genug haben!«
Paul fragte sich, ob Bard ihn tatsächlich für so naiv hielt. Bestimmt würde Bard versuchen, ihn zu töten. Aber nicht bald, vielleicht auf Jahre hinaus nicht, weil er ihn brauchte, bis er sich alle Hundert Königreiche – oder so viele davon, wie er wollte – unterworfen hatte.
Und so paradox es sein mochte, in der Zwischenzeit genoß Paul die Gesellschaft Bards. Es war eine neue Erfahrung für ihn, mit jemanden sprechen zu können, der ihn verstand und seinen Gedanken intelligent folgen konnte. Und er hatte das Gefühl, auch Bard hatte seine Freude daran.
Es wäre alles vollkommen gewesen, wenn er Melisandra bei diesem Feldzug tatsächlich hätte bei sich haben können. Aber Melisandra ritt mit den anderen Leroni , Männern und Frauen in grauen Gewändern, die von einem älteren grauhaarigen Mann streng bewacht wurden. Er hatte ein lahmes Bein, und das behinderte ihn so stark, daß an seinem Sattel eine Vorrichtung angebracht war, auf die er es während des Ritts legen konnte, und eine zweite, die ihm half, es wieder herunterzubekommen und abzusteigen. In den ersten dreimal zehn Tagen des Feldzugs fand Paul keine Gelegenheit, mehr als ein halbes Dutzend Worte mit Melisandra zu wechseln, und das waren Redensarten, bei denen die halbe Armee getrost zuhören konnte.
Die Mauern von Serrais waren schon in Sicht, als Paul, der mit Bards Adjutanten ritt, bemerkte, daß Bard sich von seinem üblichen Platz an der Spitze hatte zurückfallen lassen und sich den Leroni angeschlossen hatte. Einen Augenblick später merkte er, daß Paul zu ihm hinsah, und winkte ihm. Paul ritt zurück zu dem Häuflein graugewandeter Männer und Frauen. Melisandra hob zum Gruß den Blick. Ihr heimliches Lächeln unter der grauen Kapuze war irgendwie so intim wie ein Kuß.
Paul fragte: »Wer ist Meister Gareth?«
»Er ist der Oberste von allen Laranzu’in in Asturias, und außerdem ist er mein Vater«, antwortete Melisandra. »Ich wünschte, ich könnte ihm erzählen …« Sie brach ab, aber Paul wußte, was sie meinte.
Er flüsterte: »Du fehlst mir«, und wieder lächelte sie.
Bard winkte ihn gebieterisch zu sich und stellte vor: »Meister Gareth MacAran – Hauptmann Paolo Harryl.«
Der grauhaarige Zauberer verbeugte sich formell.
»Meister Gareth hat sein lahmes Bein von meinem ersten Feldzug her«, erklärte Bard, »aber das scheint er mir nicht nachzutragen.«
Der alte Zauberer meinte liebenswürdig: »Euch war deswegen kein Vorwurf zu machen, Meister Bard – oder muß ich Euch jetzt Lord General nennen, wie die jungen Leibwächter es tun? Niemand hätte bei diesem Feldzug ein besserer Anführer sein können. Daß ich einen vergifteten Dolch in den Beinmuskel bekam, war nichts als Pech. Das sind die Wechselfälle des Krieges. Diejenigen von uns, die mit in die Schlacht reiten, müssen derlei hinnehmen.«
»Dieser Feldzug scheint mir lange her zu sein«, sagte Bard, und Paul, der wie immer einiges von seinen Gedanken und Empfindungen auffing, nahm einen Unterton bitterer Reue wahr.
Und in Wahrheit fühlte Bard den Stachel der Reue, die Sehnsucht nach den lange vergangenen Tagen, an die er erinnert wurde durch Meister Gareths Anwesenheit und noch mehr durch das Kupferhaar Melisandras, das unter der grauen Kapuze hervorschimmerte. Damals war Beltran an seiner Seite und sein Freund gewesen. Und Melora. Bard konnte der Versuchung nicht widerstehen zu fragen: »Wie geht es Eurer älteren Tochter, Sir? Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist in Neskaya«, antwortete Meister Gareth, »im Kreis Varzils, des dortigen Bewahrers.«
Bard runzelte mißvergnügt die Stirn. »Dann dient sie den Feinden von Asturias?« Und
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